Zurück in das Frühjahr 2022: Die erste Runde der Diskussion über das Pro und Contra eines Stopps der Erdgasimporte aus Russland

Ich hatte Ihnen in der letzten Vorlesung zum einen die Anfang März 2022 kurz nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine veröffentlichte Studie von Bachmann et al. (2022) präsentiert, in der die beteiligten Ökonomen zu dem Ergebnis gekommen sind, dass ein Stopp russischer Gasimporte für Deutschland angeblich relativ geringe Auswirkungen hätte.

Die Auffassung, dass die sofortige Beendigung der russischen Gaslieferungen zwar schmerzhaft, aber verkraftbar und machbar sei, wurde zu der Zeit übrigens auch von anderer Seite vertreten:

➔ Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) (2022): Wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt. Ad-hoc-Stellungnahme,  8. März 2022, Halle, 2022

Der Stellungnahme konnte man entnehmen: »Der Krieg gegen die Ukraine hat zu einer intensiven Debatte über angemessene Wirtschaftssanktionen der Europäischen Union (EU) gegenüber Russland geführt. Dabei steht auch die Maßnahme zur Diskussion, keine russischen Erdgaslieferungen in die EU mehr zuzulassen. Zugleich könnte Russland jederzeit selbst die Entscheidung treffen, seine Erdgaslieferungen in die EU einzustellen – etwa bei einer Ausweitung der SWIFT-Sanktionen. In beiden Fällen wäre Deutschland stark betroffen. Diese Ad-hoc-Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina diskutiert, auf welche Weise und wie schnell russisches Erdgas in der EU und speziell in Deutschland kurz- sowie mittelfristig durch den Einsatz anderer, insbesondere erneuerbarer Energieträger ersetzt werden könnte. Dabei erweist es sich als sinnvoll, die kurz-, mittel- und langfristigen Aspekte der Substitution des russischen Erdgases getrennt zu diskutieren, immer vor dem Hintergrund geostrategischer Überlegungen zur mittelfristigen Transformation der Energieversorgung und mit dem langfristigen Ziel eines resilienten und klimaneutralen europäischen Energiesystems. Die Stellungnahme kommt zu dem Schluss, dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre. Engpässe könnten sich im kommenden Winter ergeben, es bestünde jedoch die Möglichkeit, durch die unmittelbare Umsetzung eines Maßnahmenpakets die negativen Auswirkungen zu begrenzen und soziale Auswirkungen abzufedern.«

Und Sie haben bereits in der vergangenen Woche gelernt, dass diese eher optimistische Sichtweise auf Kritik gestoßen ist, ich hatte Ihnen das anhand der Entgegnung des in Mannheim lehrenden Ökonomen Tom Krebs exemplarisch gezeigt.

➔ Tom Krebs (2022): Wie man die Auswirkungen eines Gasembargos nicht berechnen sollte, in: Makronom. Online-Magazin für Wirtschaftspolitik, 30.03.2022: »In einer viel beachteten Studie ist eine Gruppe von Ökonomen zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Stopp russischer Gasimporte für Deutschland relativ geringe Auswirkungen hätte. Allerdings hat die Arbeit gravierende methodische Schwächen – wodurch sie die Folgen eines Embargos unterschätzt.«

Leider ist der Beitrag mittlerweile hinter einer Bezahlschranke, aber es gibt eine frei zugängliche Variante eines Teils seiner Argumentation (außerdem habe ich seinen ersten Beitrag als PDF-Datei auf die Materialseite eingestellt):

➔ Tom Krebs (2022): Wie man die Auswirkungen eines Gasembargos berechnen könnte, in: Wirtschaftsdienst, Heft 4/2022, S. 256–258

Seine Einwände gegen die erst einmal sehr moderat daherkommenden Einbußen bei der deutschen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sind vor allem methodischer Natur. Krebs kritisiert, dass der untersuchte Wirkungszusammenhang durch die Modellberechnungen nicht angemessen abgebildet wird. Denn an entscheidender Stelle fehlt den Modellberechnungen das empirische Fundament. Dies führt dazu, dass die Studie die wirtschaftlichen Folgen eines Stopps russischer Gasimporte unterschätzt.

Er weist darauf hin, dass das effektive Erdgasangebot für Deutschland kurzfristig unelastisch ist und um circa ein Drittel zurückgehen würde. Außerdem müsse man bedenken, dass es in Deutschland mit der Grundstoffchemie und der Metallindustrie wichtige Erdgasverbraucher gibt, die das Rückgrat der industriellen Produktion in Deutschland bilden. Insofern müssen die negativen Folgewirkungen berücksichtigt werden, was mit dem Modell von Bachmann et al. angeblich nicht geleistet werden kann. Sein methodischer Hauptkritikpunkt: Die Studie von Bachmann et al. arbeitet mit einem Modell, dass gleichsam „blind“ ist für Differenzierungen in der Wirtschaftsstruktur, so unterscheidet die Analyse nicht zwischen den Möglichkeiten der Grundstoffchemie, Erdgas durch alternative Energieträger zu ersetzen, und den Möglichkeiten der Energiewirtschaft oder der privaten Haushalte, Erdgas einzusparen. In der Modellwelt von Bachmann et al. (2022) gibt es keine deutsche Chemieindustrie. Damit haben die Studienautoren das wesentliche Problem eines Stopps russischer Gasimporte per Annahme wegdefiniert, so der Vorwurf von Krebs. Für eine Analyse der – möglichen – Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft sei das aber fatal: Wenn in Grundstoffchemie, Metallindustrie und Glas & Keramik die Lichter ausgehen, dann werden andere Wirtschaftszweige entlang der Wertschöpfungskette bis hin zum Verkauf leiden.

Im Gefolge der Bachmann et al.-Studie und der kritischen Erwiderungen hat sich eine richtige „battle“ zwischen den unterschiedlichen Ökonomen-Lagern herausgebildet: »Welche Folgen hätte ein Energie-Embargo? In der deutschen Wirtschaftswissenschaft tobt ein heftiger Streit – Beleidigungen inklusive«, so der SPIEGEL unter der mehr als bezeichnenden Überschrift »Ich bin erschüttert über die Umgangsformen« (leider hinter der Bezahlschranke).

Die Studie von Bachmann et al. ist auch im politischen Raum auf eine sehr kritische Resonanz gestoßen. 

So ist der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) höchstpersönlich auf die Wissenschaftler „losgegangen“. Ich zitiere als ein Beispiel aus der Medienberichterstattung aus dem Artikel Der deutsche Streit ums Gasembargo von Marlies Uken und Zacharias Zacharakis, der am 28. März 2022 veröffentlicht wurde: 

»Ungewöhnlich harsche Worte wählt Bundeskanzler Olaf Scholz, als er am Sonntagabend danach gefragt wird, welche Folgen ein Importstopp russischen Erdgases für die deutsche Wirtschaft habe. Die ARD-Moderatorin Anne Will hatte insistiert, dass es durchaus Berechnungen von seriösen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gebe, die einen eher geringen Rückgang der Wirtschaftsleistung sähen. „Die sehen das aber falsch“, entgegnet Scholz scharf. Es sei „unverantwortlich“, für dieses Szenario „irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen“.« Die beteiligten Ökonomen reagierten mehr als verschnupft auf die Äußerungen des Bundeskanzlers: »Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler Moritz Schularick, der maßgeblich an der Studie beteiligt war, zeigte sich irritiert von der schroffen Reaktion des Bundeskanzlers. „Die Wortwahl von Kanzler Scholz ist unglücklich und erinnert an die Wissenschaftsfeindlichkeit, die wir unter Corona gesehen haben“ … Dass ein Bundeskanzler zur besten Sendezeit solche Worte benutze, halte er für „ein problematisches Signal für wissenschaftliche Politikberatung“.«

»Im Interview mit Anne Will erläuterte Olaf Scholz, dass aus seiner Sicht die Konsequenzen eines Importstopps nicht so einfach abzuschätzen seien. „Es ist etwas anderes, auszurechnen, wie viel Gas oder Kohle man benötigt, oder ob man auch bedenkt, wo das Gas durchgeleitet werden soll“, sagte der Bundeskanzler. Die ökonomischen Modelle vernachlässigten die Fragen des praktischen Umgangs mit einem plötzlichen Importstopp.« Das wird auch von anderen Kritikern bemängelt.

➔ »Unterstützung bekommt Scholz unter anderem von Achim Truger, … Mitglied des Sachverständigenrats und Professor an der Universität Duisburg-Essen. „Die Unsicherheit bei der Prognose der Auswirkungen eines Importstopps ist außerordentlich hoch“, sagt Truger, „weil es dafür eigentlich keine Erfahrungswerte und keine bewährten Modelle gibt.“ Auf Basis der existierenden Modellrechnungen und der bisherigen Diskussion könnte der Rückgang der Wirtschaftsleistung auch „deutlich größer“ ausfallen als der Wert von minus drei Prozent, der bisher als Obergrenze genannt werde. „Dies würde die deutsche Wirtschaft in ihrem industriellen Kern treffen, noch bevor sie sich richtig von der Corona-Krise erholt hat“, sagt der Ökonom. „Es wäre dann eine Mammutaufgabe, Jobverluste, Firmenpleiten und negative Verteilungswirkungen effektiv abzufedern.“«

Man muss die ganze Diskussion auch vor den erheblichen Abhängigkeitsverhältnissen sehen und einordnen, die sich in den Jahren vor dem russischen Angriffskrieg herausgebildet haben:

Und im April 2022 ging es weiter mit der überaus kontroversen Debatte über die Streitfrage, ob Deutschland einen sofortigen Stopp der Erdgasimporte aus Russland verhängen sollte (bzw. immer das Szenario mitdenken, dass ja auch Russland die Gaslieferungen einstellen könnte). An diesem Streit kann man eine Menge lernen über unterschiedliche Wirkungsannahmen innerhalb der volkswirtschaftlichen Diskussion, also die Frage, wie sich eine bestimmte Maßnahme bzw. ein bestimmtes Ereignis auf zentrale volkswirtschaftliche Aggregate wie Wirtschaftswachstum, Inflation oder Beschäftigung auswirken (könnte). Ganz offensichtlich kann man diese (potenziellen) Wirkungen durchaus sehr unterschiedlich einordnen und beziffern.

Und die Antworten auf die Frage nach den wahrscheinlichen Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft sind nicht nur eine rein akademische Sandkastenspielerei, sondern sie fließen ein (oder werden zurückgewiesen) in die aktuelle politische Entscheidungsfindung über den Wirkungskanal der Politikberatung, es geht hier also auch um die so bedeutsame praktische Wirtschaftspolitik, die mit den Erkenntnissen der Ökonomen fundiert und legitimiert werden (könnte). Vor diesem Hintergrund macht es in einer Veranstaltung für Master-Studierende Sinn, wenn wir das Fallbeispiel weiter und noch genauer hinsichtlich der vorgetragenen Argumente betrachten aus einer explizit volkswirtschaftlichen Sicht hinsichtlich der möglichen Auswirkungen.

➔ Exkurs: In dieser Krise kann es nicht nur um volkswirtschaftliche Aspekte im engeren Sinne gehen. Ich hatte das in den einführenden Anmerkungen bereits angedeutet: Die Frage nach den möglichen volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines Importstopps für Energielieferungen aus Russland (zur Erinnerung: wir importieren ja nicht nur das immer im Mittelpunkt stehende Erdgas aus Russland, sondern auch Kohle und in einem noch nicht unerheblichen Umfang auch Erdöl) ist an sich schon umstritten zwischen den Volkswirten, damit werden wir uns ja auch weiterführend beschäftigen. Aber für die Verantwortlichen in der Politik stellt sich neben der Notwendigkeit, volkswirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen, auch die Aufgabe, weitere politische Aspekte (z.B. Außen- und Sicherheitspolitik, EU-Politik usw.) bei den Entscheidungen zu gewichten. Wenn man in der politischen Verantwortung steht, kann man eben nicht nur in einer Dimension denken (bzw. man sollte das nicht). Und überall existieren Ziel- und Interessenkonflikte. Die eben dazu führen müssen, dass es in der Regel keine für uns alle klar nachvollziehbaren „wenn, dann …“-Entscheidungen geben kann, sondern meistens „suboptimale“ Kompromisse herauskommen, die bei fast allen das Gefühl hinterlassen, dass das „nicht rund“ ist, dass man nicht wirklich „zufrieden“ sein kann. Das liegt wie angesprochen aber in der Natur der Sache. 

Und es erklärt auch, dass man oftmals die Erfahrung macht, dass es für in Wirklichkeit höchst komplizierte Fragen, die einfach gestellt werden, beeindruckende Mehrheiten für bestimmte Antworten gibt (so unterstützt in Umfragen eine Mehrheit der Bundesbürger den sofortigen Stopp der Gasimporte aus Russland, weil das die kriegführenden Russen hart treffen würde – allerdings könnte sich das Umfrageergebnis erheblich verändern, wenn den Befragten zugleich mitgeteilt werden würde, welche Auswirkungen in Deutschland zu erwarten wären). 

Aber auch aus einer explizit wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive ergeben sich weiterführende Fragen, die einen Teilbereich betreffen, der immer wieder unter dem Oberbegriff Wirtschaftsethik thematisiert wird – und mit ethischen oder moralischen Fragen werden dann Dinge aufgerufen, die nicht nur aus einer rein ökonomischen Perspektive behandelt werden können. Ich habe für die Interessierten unter Ihnen diese Veröffentlichung aus dem April dieses Jahres gefunden, in der die zahlreichen Abwägungen und auch Dilemmata angesprochen werden – und das auf wenigen Seiten:

➔ Ingo Pies (2022): Moralische Verpflichtung zum Wirtschaftskrieg?, in: ifo Schnelldienst, Sonderausgabe, April 2022, S. 19-22
»Dieser Artikel reagiert kritisch auf die Forderung einer Gruppe namhafter Wirtschaftsethiker, Unternehmen sollten um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung willen sämtliche Geschäftsbeziehungen mit Russland sofort und beinahe ausnahmslos unterbinden. Gegen diese Forderung werden drei Einwände geltend gemacht. Erstens ist unklar, ob eine solche Eskalation von Boykott und Embargo Leid und Tod in der Ukraine (und auch anderswo) vermindert oder vermehrt. Zweitens werden Unternehmen mit dieser Forderung überfordert, weil von ihnen nicht erwartet werden kann, dass sie unter Wettbewerbsbedingungen in der Lage sind, eine solch umfassende Kartell-Lösung zu organisieren. Drittens sollte Wirtschaftsethik darauf achten, mit eigenen Beiträgen die Spirale von Emotionalisierung, Moralisierung und Dichotomisierung realer Konfliktlagen nicht weiter voranzutreiben.«