Der Blick in die Glaskugel: Das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute und die Herbstprognose der Bundesregierung

Sie hatten als Übungsaufgabe zu unserem ersten Schwerpunktthema – den ökonomischen Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022, die daraufhin von westlichen Staaten verhängten Sanktionen gegen Russland und den erheblichen Problemen der europäischen Staaten und insbesondere der deutschen Volkswirtschaft im Zuge der Lieferreduktionen bzw. dem Lieferstopp vor allem beim russischen Erdgas – nach den bereits im März dieses Jahres veröffentlichten ersten und wie wir am Beispiel der Bachmann et al.-Studie und der Erwiderung des Mannheimer Ökonomen Tom Krebs exemplarisch diskutierten Einschätzungsversuchen der möglichen Auswirkungen eines Erdgaslieferstopps gesehen haben überaus kontroversen Bewertungen der Energieabhängigkeit der EU und dabei vor allem Deutschlands den Auftrag bekommen, die Ausführungen im neuen Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute über „Konjunkturelle Folgen eines Gasmangels in Deutschland“ zu lesen und die dort präsentierten Befunde mit der Argumentation der Bachmann et al.-Studie aus dem Frühjahr und den kritischen Anmerkungen von Krebs, die wir in der Vorlesung besprochen haben, zu vergleichen:

➔ Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022): Herbst 2022. Energiekrise: Inflation, Rezession, Wohlstandsverlust. Gemeinschaftsdiagnose #2-2022, Essen, September 2022

Die Institute beginnen ihre Ausführungen mit dieser direkten Anknüpfung an das, was wir am Beispiel der „Bachmann et al./Krebs-Kontroverse“ angesprochen haben:

»Während manche Studien Rückgänge des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zum Status quo von bis zu über 10 % berechnen, kommen andere Modelle zu deutlich geringeren Verlusten im niedrigen einstelligen Bereich. Die große Spannbreite resultiert aus unterschiedlichen Annahmen in vier relevanten Dimensionen.«

Es handelt sich dabei um diese vier Dimensionen:

1.) Gasangebot und die Rolle des Gasspeichers: »Je größer der Gasangebotsschock, desto höher ist der wirtschaftliche Schaden.« Unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich des Rückgangs der zur Verfügung stehenden Gasmenge beeinflussen die Ergebnisse der Studien, was die Wertschöpfungsverluste angeht.

2.) Wirkungskanäle: »Während die meisten Studien den Effekt eines Gasangebotsschocks über den Produktionskanal berücksichtigen, sind negative Effekte auf die Konsumnachfrage aufgrund der gestiegenen Energiepreise nicht in allen Studien enthalten. Andere Studien basieren hingegen auf der Annahme von substanziellen Nachfrageffekten – im Bereich von 2 % bis 4 % des Bruttoinlandsprodukts –, welche in der kurzen Frist zumindest teilweise zu den Verlusten über den Produktionskanal hinzukommen.«

3.) Langfristige Anpassungseffekte vs. Konjunkturverlauf: »Je langfristiger das Modell angelegt ist, desto niedriger sind im Schnitt die negativen Effekte. So sind die gesamtwirtschaftlichen Schäden im Mehrsektoren-Handelsmodell von Bachmann et al. (2022) am geringsten, da hier die Anpassungskosten besonders niedrig sind und im neuen langfristigen Gleichgewicht inländische Vorprodukte durch Importe substituiert werden können.«

4.) Substitutionselastizitäten: »Je mehr Gas durch andere Produktionsfaktoren (andere Energieträger, Kapital, Arbeit) ersetzt werden kann, desto geringer fallen die negativen Effekte aus. Zwar nehmen alle Studien an, dass Gaseinsparungen ohne Produktionseinschränkungen bis zu einem gewissen Grad möglich sind, allerdings variiert die Größenordnung der Einsparpotenziale. Während eine Reihe von Studien von einem fixen Einsparpotenzial ausgehen und darüber hinaus kurzfristig keine Substitution zulassen (Leontief-Produktionsfunktion), treffen andere Studien die Annahme, dass Gas in Abhängigkeit von der Preisentwicklung sehr schnell substituiert werden kann (Substitutionselastizität > 0). Je höher die Substitutionselastizität, desto niedriger fallen in der Regel die negativen Effekte des Lieferstopps aus.«

Im weiteren Verlauf präsentieren die Institute umfangreiche Berechnungen auf der Basis eigener Simulationen. Sie kommen zu diesem Ergebnis:

»Die Modellsimulationen zur Gasverfügbarkeit zeigen, dass eine Reduktion des Gasverbrauchs um 20% bei gleichzeitiger Erhöhung der Importe (inklusive der geplanten LNG-Terminals) eine Gasmangellage bei jeder Wetterlage verhindern kann.«

Das hört sich doch sehr positiv an. Aber man muss genau lesen – eine der Voraussetzungen ist eine „Reduktion des Gasverbrauchs um 20%“. Bei gleichzeitiger Erhöhung der Importe.

Und wenn das nicht erreicht wird? Dann sehen die Prognosen anders aus:

»Sofern solche Einsparungen nicht gelingen, sind gravierende Konsequenzen für die wirtschaftliche Aktivität zu erwarten. In einem Risikoszenario, welches unter anderem sehr kalte Winter sowie geringere Gaseinsparungen unterstellt, dürfte das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt jeweils zu Jahresbeginn 2023 und 2024 massiv einbrechen. Unter der Annahme, dass der dramatische Einbruch nicht mit einer Welle von Geschäftsschließungen einhergeht, dürfte die Gasmangellage in dem unterstellten Szenario zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung im Jahr 2023 von 7,9 % und im Jahr 2024 von 4,2 % führen.«

Man muss diese Werte vor dem Hintergrund der „normalen“ Prognose sehen, die man im Herbstgutachten vorfindet:

Der hier für das kommende Jahr ausgewiesene Einbruch der Wirtschaftsleistung in Höhe von -1,4 % erscheint regelrecht moderat gegenüber den Werten aus dem Risikoszenario – und verdeutlicht das erhebliche Unsichertheitsspektrum, mit dem man gegenwärtig bei Prognosen konfrontiert ist.

Aber auch diese „moderat“ daherkommenden Werte müssen im Kontext zu dem egsehen werden, was die gleichen Wirtschaftsforschungsinstitute noch in ihrem Frühjahrsgutachten veröffentlicht hatten, das im April 2022 veröffentlicht worden ist:

»Alles in allem dürfte die Produktion in diesem Jahr trotz des Rückgangs in der zweiten Jahreshälfte um 1,4 % ausgeweitet werden. Damit halbieren die Institute ihre Prognose vom Frühjahr für dieses Jahr annähernd … Für das kommende Jahr ist zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt um 0,4 % zurückgeht … Im Frühjahr erwarteten die Institute noch einen Anstieg von 3,1 %. In dieser Revision zeigt sich das Ausmaß der Energiekrise. So fällt die Wirtschaftsleistung im laufenden und kommenden Jahr insgesamt um 160 Mrd. Euro niedriger aus, als noch im Frühjahr erwartet worden war.«

Mit Blick auf die (möglichen) Risiken führen die Institute aus:

»Das größte Risiko für die konjunkturelle Entwicklung stellt derzeit die Verfügbarkeit von Gas dar. Sollte der Verbrauch in diesem Winter nicht, wie in dieser Prognose unterstellt, ausreichend sinken, käme es zu einer staatlichen Rationierung. In dieser Situation müssten die Unternehmen ihre Produktion zusätzlich einschränken. Auch im darauffolgenden Winter ist eine Gasmangellage nicht auszuschließen, sofern es nicht gelingt, die Speicher im Laufe des Jahres ausreichend zu füllen. In diesem Fall käme es im Winter 2023/2024 abermals zu produktionsdämpfenden Effekten. Auf- wie Abwärtsrisiken bestehen dadurch, dass die Gasnachfrage in den Wintermonaten stark von den Temperaturen abhängt. Sollte der kommende Winter deutlich wärmer (kälter) als im Durchschnitt der vergangenen Jahre werden, würde die Gasnachfrage geringer (größer) ausfallen als in dieser Prognose unterstellt. In diesem Fall dürften die Gaspreise schneller (langsamer) zurückgehen und die Wirtschaftsaktivität in geringerem (größerem) Maße dämpfen.«

»Zudem geht nach wie vor ein konjunkturelles Risiko von der Corona-Pandemie und möglichen Infektionsschutzmaßnahmen aus. Die Infektionszahlen sind weltweit nach wie vor hoch. Zwar sind die Krankheitsverläufe bei der derzeit dominierenden Variante vergleichsweise mild. Es besteht aber weiterhin die Möglichkeit, dass eine neue Variante mit schwereren Verläufen auftritt. In diesem Fall könnte es wieder zu stärkeren Beeinträchtigungen der Wirtschaftsaktivität kommen.«

Und was sagt die Bundesregierung?

Am 12. Oktober 2022 hat das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) diese Pressemitteilung veröffentlicht: Bundesregierung legt Herbstprojektion vor. Und wie sieht man dort die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung? Es wird Sie nicht überraschen – man hat sich in der Bundesregierung nicht für die negativen Werte aus dem Risikoszenario entschieden, sondern für die andere Variante, wie Sie gleich an den Zahlen erkennen können:

»In Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wächst die deutsche Volkswirtschaft im laufenden Jahr demnach nur noch um 1,4 % und schrumpft im nächsten Jahr sogar um 0,4 %. Zentraler Grund für die Abwärtskorrektur gegenüber der Frühjahrsprojektion ist der Stopp russischer Gaslieferungen. Dadurch befinden sich die Energiepreise weiterhin auf einem sehr hohen Niveau ̧ Die hohen Preise bremsen die Industrieproduktion – vor allem in energieintensiven Bereichen. Der Kaufkraftverlust hinterlässt auch Spuren im preisbereinigten privaten Konsum, der im nächsten Jahr rückläufig sein dürfte.
Die Verbraucherpreise bleiben dementsprechend auf einem hohen Niveau. Allerdings dürfte die geplante Gaspreisbremse den Preisanstieg dämpfen. Die Bundesregierung prognostiziert eine Inflationsrate von 8,0 % im Jahr 2022 und 7,0 % im Jahr 2023. Ohne den preisdämpfenden Effekt der Gaspreisbremse würde die Inflationsrate vor allem im Jahr 2023 nochmals deutlich höher ausfallen.«

➔ Hier finden Sie die Eckwerte der Herbstprojektion 2022 der Bundesregierung auf einer Seite.