Von Russland über China zu den (nicht nur) ökonomischen Abhängigkeiten wieder zurück nach China und der Frage: Kann man die beseitigen oder wenigstens abbauen?

Wir haben in der bisherigen Veranstaltung zum einen am Beispiel des Außenhandels mit Russland (und dem akuten und wahrscheinlich anhaltenden Problem, dass die über viele Jahre gewachsene einseitige Abhängigkeit vor allem der deutsche Volkswirtschaft von den Erdgaslieferungen aus Russland, aber nicht zu vergessen auch bei bestimmten Metallen), zum anderen am Beispiel der besonderen Bedeutung des Außenhandels mit China und dabei neben der generellen Bedeutung auch die spezifische Abhängigkeit bei zahlreichen kritischen Rohstoffen, immer wieder das in einer globalisierten Weltwirtschaft, die eben nicht auf ausgeglichenen Handelsstrukturen basiert, erhebliche Problem der multiplen Abhängigkeiten kennengelernt. Die Beschäftigung mit der Studie

➔ Melinda Fremerey und Simon Gerards Iglesias (2022): Abhängigkeit – Was bedeutet sie und wo besteht sie? Ein Überblick über wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten. IW-Report Nr. 56, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), November 2022

hat uns zeigen können, dass man dabei Abhängigkeit – ein Begriff, der in jüngerer Zeit immer mehr Eingang in politische Debatten gefunden hat – nicht verengen kann und darf auf eine ökonomische Abhängigkeit im engeren Sinne. Sei es die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Exporten, die militärische Abhängigkeit Europas von den USA und nicht zuletzt die Abhängigkeit der Deutschen vom russischen Gas. Dabei werden Abhängigkeiten vor allem dann zu einem Problem, wenn sich Beziehungen zwischen Staaten neu konfigurieren oder scheinbar unvorhergesehene Ereignisse die Handelsströme plötzlich stören. Fremerey/Gerards Iglesias (2022) schlagen eine breite Definition vor, die neben geoökonomischen Abhängigkeiten auch politische Abhängigkeiten umfasst.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die deutschen wirtschaftlichen Abhängigkeiten im internationalen Vergleich zwar gering ausfallen können, im Bereich der Abhängigkeit von mineralischen Brennstoffen und Rohstoffen aber hingegen große Abhängigkeiten bestehen.

Und immer wieder taucht dabei China auf. Wir haben bereits einen umfangreichen Blick geworfen auf die Bedeutung des Außenhandels mit China und Sie haben gesehen, dass China nicht nur der quantitativ wichtigste Handelspartner (gemessen am Außenhandelsumsatz) für Deutschland ist, sondern wir auch besonders empfindlich sind bei kritischen Rohstoffen.

Aktuell ist China noch Deutschlands wichtigster Handelspartner. 2021 war es auf Platz 2 der Länder, in die deutsche Unternehmen am meisten exportieren. Noch entscheidender ist China aber für die Importe, das betrifft besonders die Automobil, die Chemie- oder die Elektroindustrie. Eine kritische Abhängigkeit besteht etwa bei Seltenen Erden, die unter anderem für den Bau von Elektromotoren oder Windturbinen gebraucht werden. Seltene Erden könnten auch in Australien, Südafrika oder Indien gefördert werden, doch dafür müssten erst Kapazitäten entstehen.

Auch bei Medikamenten ist Deutschland von China abhängig: Bei Chloramphenicol, einem Breitbandantibiotikum, werden mehr als 97 Prozent aus China importiert, ebenso bei Vitamin B.

1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen mit dem China-Geschäft zusammen, kann man dem Beitrag Weniger China wagen? entnehmen. In dem Beitrag geht es um diese Frage: »Spätestens seit dem Ukraine-Krieg sucht Deutschland nach einer neuen China-Strategie. Das Ziel: weniger Abhängigkeit, mehr Menschenrechte. Gar nicht so leicht.«

➞ Darin dieses Beispiel: »Kein Handel mehr mit China? „Das wäre vermutlich ein riesiges Problem“, sagt Ralf Stoffels. Er ist Geschäftsführer von BIW, einem mittelständischen Unternehmen mit Standorten in Nordrhein-Westfalen, Polen und China. Dort werden unter anderem Silikonschläuche hergestellt, für Autos, Flugzeuge, Backöfen und medizinische Zwecke. Der Rohstoff dafür, das Silicium, kommt zu 85 Prozent aus China. In der Menge ließe es sich nicht aus einem anderen Land ersetzen, erklärt Geschäftsführer Stoffels, und Knappheit würde zu Preissteigerungen führen. Womöglich könnte er Dialyseschläuche teurer verkaufen, weil Medizinprodukte wichtig sind. Doch ohne China als Lieferant und Absatzmarkt müsste sich sein Unternehmen gesundschrumpfen, glaubt Stoffels – das hieße letztlich auch Entlassungen. Es ist ein Unternehmen, das wie viele andere von Zulieferungen aus China abhängig ist.«

Aber es ist nicht so, dass in der Wirtschaft kein Umdenken gefordert wird: »Laut einer Umfrage des ifo-Instituts sind 46 Prozent der Unternehmen, die Rohstoffe oder Produkte weiterverarbeiten, auf China angewiesen. Jedes zweite möchte das ändern. Denn wie anfällig die Lieferketten sind, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt.«

Und Menschenrechtsorganisationen fordern schon länger mehr Druck auf China. Immer wieder wird beispielsweise der Umgang der chinesischen Regierung mit der muslimischen Minderheit der Uiguren beklagt.

➔ Vgl. dazu ausführlicher den Hintergrund-Beitrag Die Lage der Uiguren des Deutschlandfunks vom 1. September 2022: »Die „Xinjiang Police Files“ belegen Gewalt und Freiheitsberaubung an Uiguren in angeblichen „Berufsbildungseinrichtungen“ in China. Schon lange unterdrückt Peking die Volksgruppe systematisch. Fragen und Antworten zu einem Konflikt, in den möglicherweise auch deutsche Firmen verstrickt sind.«

In dem Beitrag Weniger China wagen? wird die Hoffnung, man könne die Menschenrechtslage in China mit ökonomischen Druck verbessern, thematisiert:

»Könnte ein Handelsboykott das autoritäre Regime zum Umdenken bewegen, was die Menschenrechtsverletzungen und den Umgang mit Minderheiten angeht? Das bezweifelt Genia Kostka, Professorin für chinesische Politik an der Freien Universität Berlin. „Auf jeden Fall würde das politische Verhältnis darunter leiden“, sagt sie. Die wirtschaftlichen Beziehungen seien oft die Grundlage für politische Kompromisse. Und die brauche es bei globalen Fragen, wie dem Kampf gegen den Klimawandel und der Bewältigung der Corona-Pandemie. Bei einer Isolation Chinas hält Kostka eine Blockbildung für möglich, China könnte sich gleichgesinnte autoritäre Partner wie Russland suchen.«

Aber auch: »“Die alte Strategie ‚Wandel durch Handel‘ war naiv und auch etwas arrogant vom Westen“, sagt Kostka. Die Expertin für chinesische Politik plädiert für eine neue Strategie: Es brauche harte direkte Verhandlungen und klare Regeln im Handel. Wie etwa das Lieferkettengesetz, das kommendes Jahr in Kraft tritt: Wenn Deutschland keine Produkte aus Zwangsarbeit mehr kauft, sei das eine gute Stellschraube.«

Auf dem Weg zu einer neuen China-Strategie der Bundesregierung?

Die Ampelregierung will Deutschlands Chinapolitik neu ausrichten – das von den Grünen geführte Auswärtige Amt hat einen ersten Entwurf für eine neue China-Strategie vorgelegt. Der Entwurf sieht vor, Investitionsgarantien künftig bei drei Milliarden Euro »pro Unternehmen pro Land« zu deckeln. Investitionsgarantien sollen zudem einer »vertieften Prüfung« unterzogen werden – von Umweltkriterien bis hin zu Sozialstandards »wie die Vermeidung von Zwangsarbeit in Lieferketten«. Zudem soll – ähnlich wie mit Russland – Deutschlands Abhängigkeit von China »zügig und mit für die deutsche Volkswirtschaft vertretbaren Kosten« verringert werden. Der Entwurf zeichnet ein äußerst kritisches Bild der kommunistischen Regierung in Peking. So ist von »massiven Menschenrechtsverletzungen« in der Uigurenprovinz Xinjiang und in Tibet die Rede. Auch »die Lage in Hongkong« wird problematisiert, ebenso Chinas militärische Drohgebärden gegen Taiwan.
Auch scharfe Sanktionen schließt das Papier nicht aus. »Wir sind im EU-Rahmen auch bereit, Importstopps aus Regionen mit besonders massiven Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen, wenn Lieferketten frei von Menschenrechtsverletzungen mit anderen Mitteln nicht sichergestellt werden können«, heißt es in dem Entwurf. Bei der Ratifizierung des bereits ausgehandelten Investitionsabkommens zwischen der EU und China soll berücksichtigt werden, »welche Auswirkungen das Abkommen auf die Menschenrechtssituation, insbesondere mit Bezug zu Zwangsarbeit, aber auch gegenseitige Abhängigkeiten haben wird«.
Das Auswärtige Amt warnt in dem Papier auch vor weltweiten chinesischen Investitionen in Häfen – ein Thema, das zuletzt für Streit mit dem Kanzleramt gesorgt hatte. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich über Bedenken der Fachressorts hinweggesetzt, das sich gegen eine Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an einem Containerterminal im Hamburger Hafen ausgesprochen hatten. »Investitionen in Häfen eröffnen China langfristig militärische Nutzungsoptionen«, heißt es in dem Papier.

»Es wird erwartet, dass das zwischen den Ministerien abgestimmte Papier erst im kommenden Jahr fertig wird. Ohnehin soll zuerst die europäische Sicherheitsstrategie vorgelegt werden, dann die deutsche Chinastrategie.«

Die CDU/CSU hat im Bundestag nachgefragt, wie es denn mit der neuen China-Strategie bestellt sei – hier die Antwort die Bundesregierung:

➔ Stand der China-Strategie der Bundesregierung, Bundestags-Drs. 20/4441 vom 11.11.2022

Dabei gibt es nicht „die“ China-Strategie der Bundesregierung – das kann man an solchen Stellungnahmen gut ablesen: Die verschiedenen China-Konzepte innerhalb der Bundesregierung stoßen in der Wirtschaft auf Unverständnis. „Die Wirtschaft ist über diese mehrgleisige Kommunikation bei der China-Strategie angesichts der Bedeutung, die China für unsere Wirtschaft hat, sehr verärgert“, wird der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammern (DIHK), Volker Treier, in diesem Artikel zitiert: Habecks China-Pläne verärgern Wirtschaft. Wieso Habeck? Eben war es doch das Außenministerium, das eine neue China-Strategie formulieren soll und an deren Spitze steht nicht Habeck, sondern Baerbock. Alle beteiligen sich an der Formulierung der neuen Strategie.

Wie dem auch sei: Auslöser der zitierten Verärgerung in Teilen der Wirtschaft sind Berichte »über ein China-Papier des Wirtschaftsministeriums, in dem von neuen Auflagen für Unternehmen im China-Geschäft die Rede ist. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck plane, deutschen Firmen mit starkem China-Geschäft neue Berichtspflichten aufzuerlegen und die politische Unterstützung für deutsch-chinesische Wirtschaftsprojekte herunterzufahren, heißt es darin. „Gerüchte über eine erhebliche Erweiterung und Vertiefung der Berichtspflichten auch für mittelständische Betriebe, die in China tätig sind, sind Gift für stabile Geschäftsbeziehungen und die Planungssicherheit“, kritisierte Treier. Angesichts der aktuell ohnehin gewaltigen Herausforderungen im internationalen Geschäft komme diese Art der Debatte „zur Unzeit“.«

Aber wie sieht es derzeit tatsächlich aus im Handel zwischen Deutschland und China?

»Die große wirtschaftliche Abhängigkeit von China ist spätestens nach den militärischen Drohgebärden Pekings gegenüber Taiwan als gravierendes Problem erkannt und soll möglichst bald reduziert werden. Das Gegenteil fand jedoch im ersten Halbjahr 2022 statt. Die deutschen Direktinvestitionsflüsse nach China waren noch nie so hoch. Auch die Importe aus China und das deutsche Defizit im Handel mit China erreichten ein Allzeithoch. Dagegen schwächte sich das deutsche Ausfuhrwachstum nach China stark ab und Chinas Exportanteil sank erneut. Der chinesische Markt soll offenbar immer mehr durch Produktion vor Ort statt durch Exporte bedient werden.«

Das berichtet Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in dieser Veröffentlichung:

➔ Jürgen Matthes (2022): China-Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft: Mit Volldampf in die falsche Richtung. IW-Kurzbericht Nr. 68, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), August 2022

»Die deutsche Wirtschaft ist sehr viel abhängiger von China als umgekehrt und bereits bis 2021 nahm die Abhängigkeit fast stetig zu … Angesichts von Chinas Verhalten beim Russland-Ukraine-Krieg und der massiven Drohungen Pekings gegenüber Taiwan wird das zu einem politischen Problem. Denn sollte es nach einem möglichen Einmarsch Chinas in Taiwan zu umfangreichen Sanktionen des Westens gegenüber China kommen, drohen aufgrund der hohen Importabhängigkeit nicht nur massive Engpässe bei vielen Zulieferungen aus China. Bei in China besonders exponierten deutschen Unternehmen könnte das dann absehbar kollabierende China-Geschäfts durch Einbußen auf der Absatzseite möglicherweise sogar in die Pleite führen. Die Politik befürchtet, dass sie bei kriselnden Großunternehmen dann als Retter gerufen wird, um gefährdete Arbeitsplätze zu erhalten. Angesichts der massiv gestiegenen politischen Risiken ist es jedoch die höchst dringliche Aufgabe der exponierten deutschen Firmen, das China-Geschäft so aufzustellen, dass auch dessen Kollaps nicht das gesamte Unternehmen in Existenznot bringt …

Doch trotz dieser Gefahren und Probleme haben sich die wirtschaftlichen Verflechtungen mit China im ersten Halbjahr 2022 mit einem enormen Tempo in die falsche Richtung entwickelt. Nach Daten der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank hat die deutsche Wirtschaft allein im ersten Halbjahr 2022 rund 10 Milliarden Euro investiert (Tabelle). Das ist mit Abstand ein Rekord bei den Direktinvestitionsströmen nach China. Seit der Jahrtausendwende lag der bisherige Höchstwert in einem ersten Halbjahr bei lediglich 6,2 Milliarden Euro. Der Halbjahreswert in diesem Jahr übertrifft sogar alle gesamten Jahreswerte seit dem Jahr 2000.

Quelle der Abbildung: Matthes (2022)

Ungeachtet der immens gestiegenen geopolitischen Risiken setzen die deutschen Firmen ihre Expansionspläne bei ihrem investiven Engagement in China offen[1]sichtlich dynamisch weiter um. Die Antwort vieler Firmen auf die geopolitischen Risiken, den US-China-Handelskrieg und Abkoppelungstendenzen scheint eher mehr China zu sein und nicht weniger. Eine zunehmende Lokalisierung von immer mehr Geschäftsaktivitäten in China ist offenbar die Devise. Der chinesische Absatzmarkt und die dort kurzfristig winkenden Gewinne erscheinen schlichtweg zu attraktiv zu sein.

Deutsche Einfuhren steigen stark, …

Auch beim Warenhandel geht die Entwicklung in eine problematische Richtung. So nahmen die deutschen Warenimporte aus China im ersten Halbjahr 2022 wert[1]mäßig extrem stark zu. Sie stiegen um nahezu die Hälfte (45,7 Prozent) gegenüber dem ersten Halbjahr 2021.

Zwar wuchsen die deutschen Einfuhren aus allen Ländern im Jahresvergleich mit wertmäßig 26,5 Prozent auch relativ stark, wohl vor allem bedingt durch starke Importpreissteigerungen und mögliche Basiseffekte aufgrund der Corona-Krise. Doch der weit überproportionale Anstieg der gesamten Importe aus China lässt den chinesischen Anteil an den Importen aus aller Welt auf 12,4 Prozent noch weiter steigen (Tabelle).

Der Zuwachs bei den Importwerten aus China im ersten Halbjahr 2022 geht auch auf deutliche Preissteigerungen zurück und nicht nur auf einen merklichen Mengenanstieg bei den meisten Warengruppen (außer unter anderem bei pharmazeutischen Produkten, Textilien und Möbeln). Immense Preisanstiege gab es vor allem bei Chemischen Erzeugnissen: Während die aus China importierte Menge im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 um rund 30 Prozent zulegte, stieg der Importwert bei Chemieprodukten um fast 500 Prozent von 3,1 Milliarden Euro auf 18,5 Milliarden Euro. Damit trug nur diese Warengruppe rund die Hälfte zum gesamten An[1]stieg des Importwertes gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum bei. Ob dahinter auch Re-Importe stehen oder ein Ersatz von stark verteuerter deutscher Chemie-Produktion, lässt sich mit den vorhandenen Daten nicht prüfen.

China baut seinen Rang als wichtigster deutscher Importlieferant bei der gesamten Einfuhr mit der Entwicklung im ersten Halbjahr 2022 also noch weiter aus. Der Abstand zu den Niederlanden als zweitwichtigstem Lieferland (8,4 Prozent) wird noch größer und steigt im Vergleich zu 2021 von drei auf vier Prozentpunkte. Auf der Einfuhrseite ist damit von einem allmählichen Rückbau der ohnehin schon sehr hohen 3 Importabhängigkeit von China, wie sie sich in einzelnen Unternehmensumfragen vermeintlich andeutet, in den aktuellen Handelsdaten keine Spur.

… aber Ausfuhren kaum noch

Auf der Exportseite, an der in Deutschland immerhin eine gute Million Arbeitsplätze hängen, sieht es dagegen relativ mau aus (Tabelle). Während die gesamten deutschen Ausfuhren in alle Länder im ersten Halbjahr 2022 um immerhin 13,3 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum wertmäßig zunahmen, stiegen die deutschen Ausfuhren nach China nur um knapp 3 Prozent. Damit verringert sich der Anteil Chinas an den gesamten deutschen Ausfuhren erneut auf 7,4 Prozent. Auch 2021 war es schon zu einem Anteilsrückgang gegenüber dem Höchstwert 2020 von 7,9 Prozent gekommen, der von den Auswirkungen der Corona-Krise geprägt war.

Dahinter steht zwar eine gewisse Normalisierung. Doch steht zu befürchten, dass sich ein struktureller Trend herausbildet, indem die deutsche Wirtschaft den chinesischen Markt zunehmend durch Produktion und immer weniger durch Exporte bedient. In diesem Fall würde der Standort Deutschland wohl weniger stark vom China-Engagement der deutschen Firmen profitieren.

Handelsbilanz mit Rekordminus

Die unterschiedliche Entwicklung von Einfuhren und Ausfuhren hat auch erhebliche Auswirkungen auf den Warenhandelsbilanzsaldo zwischen Deutschland und China. Das ohnehin schon sehr hohe deutsche Handelsbilanzdefizit stieg noch weiter, weil die Importe viel stärker zulegten als die Exporte. Allein im ersten Halbjahr erreichte es fast 41 Milliarden Euro (Tabelle). Das ist mit Abstand ein Allzeithoch und sogar mehr als sämtliche bisherige Werte für die Gesamtjahre. Das Ungleichgewicht im Handel mit China nimmt also immer mehr zu.«

Soweit die empirische Bestandsaufnahme der aktuellen Entwicklung. Welche wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen zieht Matthes (2022)?

Politisches Gegensteuern dringend nötig

»Es deutet vieles darauf hin, dass das Gewinnstreben der deutschen Firmen ohne einen staatlichen Eingriff weiterhin zu mehr und nicht zu weniger China bei Direktinvestitionen und Importen führt. Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China als Absatzmarkt und Lieferant steigt damit immer weiter. Das Gegenteil ist jedoch wegen der zunehmenden geopolitischen Spannungen nötig. Angesichts der Daten für das erste Halbjahr 2022 bedarf es dringend einer wirtschaftspolitischen Umsteuerung. Die Rahmenbedingungen für deutsche Unternehmen mit Wirtschaftsbeziehungen zu China müssen verändert werden. Es geht zwar nicht um eine vollständige Entkoppelung von China, aber um eine Reduzierung der überproportionalen relativen Bedeutung Chinas.

Dazu gehört vor allem mehr Diversifizierung und der Aufbau von Handels- und Investitionsbeziehungen mit anderen Schwellenländern, vor allem in Asien. Eine flexiblere EU-Strategie bei Freihandelsabkommen ist dazu unverzichtbar.

Zudem sollte die deutsche Politik bestehende positive Anreize für ein Engagement in China zeitnah abbauen. Dazu gehört vor allem die staatliche Absicherung von politischen Risiken durch Investitionsgarantien. Das ausverhandelte bilaterale Investitionsabkommen zwischen der EU und China sollte nicht ratifiziert werden, auch nicht bei einer (unwahrscheinlichen) Entspannung der diplomatischen Konflikte mit China.

Darüber hinaus sollte die Politik Unternehmen mit starken Risikoexposures in China dazu bringen, ein adäquates Risikomanagement zu betreiben. Es geht ähnlich wie im Bankensystem darum, systemische Risiken für die deutsche Volkswirtschaft zu verhindern und im Verlustfall ein Bailout durch den Steuerzahler auszuschließen. Unternehmen sollten daher in der Bilanzberichterstattung verpflichtet werden, über geopolitische Klumpenrisiken und über mögliche betriebliche Verluste bei der Realisierung dieser Risiken zu berichten. Zudem sollten sie Notfallpläne für diesen Fall erstellen und vorhalten.

Damit würden die Risiken transparent und könnten von Rating-Agenturen und vom Finanzmarkt in die Unternehmensbewertung einbezogen und bei Finanzierungskonditionen eingepreist werden. Auf diese Weise lässt sich der Anreizrahmen marktwirtschaftlich basiert ändern. Sollten bei einzelnen Unternehmen besonders hohe Risiken zutage treten, ist zu erwägen, wie bei den Banken höhere Risikopuffer durch Kapitalrücklagen verpflichtend zu machen.«