Wir hatten uns in der letzten Veranstaltung anhand der Studie von Dorn et al. (2022) auseinandergesetzt mit der der Frage, ob und wie man rauskommen kann aus den zunehmend als Problem diagnostizierten Abhängigkeiten, die sich gerade für eine derart vom Außenhandel abhängigen Volkswirtschaft wie der in Deutschland in den vergangenen Jahren entwickelt haben und die nunmehr immer öfter ihre negativen Seiten zeigen.
Und damit sind nicht nur die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine gemeint, die mehr als schmerzhaft die aus dem Ruder gelaufene Energieabhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft (und dazu gehören auch Millionen Privathaushalte) von Russland spürbar gemacht hat, sonder wir haben auch mehrfach die durchaus kritisch zu sehende Abhängigkeit von China in der bisherigen VWL-Veranstaltung thematisiert. Das geht aber noch weiter.
»Der Vormarsch der Autokratien weltweit nimmt zu. Ob Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsleistung oder CO2-Emissionen: die Anteile von autokratisch regierten Ländern stiegen in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich an. Heute entfällt mehr als ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung auf harte Autokratien, deutlich mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in autokratisch regierten Ländern und für fast die Hälfte aller CO2-Emissionen sind allein Autokratien verantwortlich. Eine wertegeleitete europäische Außenpolitik stellt Kooperationen mit Autokratien zunehmend in Frage, was aber nicht dazu führen darf, dass es keine Zusammenarbeit mehr gibt.« So Simon Gerards Iglesias vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln in seinem 2022 veröffentlichten Beitrag Abschottung ist keine Option. Autokratien gewinnen an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung.

Simon Gerards Iglesias versucht eine Einordnung:
In Zeiten zunehmender geopolitischer Konflikte und Krisen stellt sich in der politischen Debatte immer häufiger die Frage, ob der bisherige deutsche Ansatz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen noch zeitgemäß ist. Der brutale Angriffskrieg auf einen souveränen europäischen Staat hat die Geopolitik wieder in den Vordergrund gerückt, was Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen haben wird. Russland ist einem beispiellosen Decoupling der westlichen Allianz ausgesetzt, es verliert wohl unwiederbringlich seinen wichtigsten Absatzmarkt und für längere Zeiten auch einen bedeutenden Importmarkt.
Es sollen Lehren aus Russland gezogen werden, um die Wirtschaft resilienter gegenüber geopolitischen Konflikten zu machen. Folglich plädiert eine Mehrheit der Ökonomen in einer Umfrage für eine Einschränkung der Handelsbeziehungen mit Autokratien und unternehmerische Strategien zielen vermehrt auf die Verkürzung oder Regionalisierung von Lieferketten, weil global organisierte Wertschöpfungsketten anfällig gegenüber exogenen Schocks sind. Auch die Beziehungen zu China, einem immer unberechenbareren Regime, das sich nach innen wie nach außen spürbar radikalisiert, werden hinterfragt – die „goldene Ära“ mit China, jahrzehntelang geprägt von intensiveren Wirtschaftsbeziehungen, sei endgültig vorbei, so der britische Premierminister Rishi Sunak.
Daher geht es beim Paradigmenwechsel in den Wirtschaftsbeziehungen nicht nur um ein stärkeres europäisches Sendungsbewusstsein von Werten, die global durchgesetzt werden sollen, sondern vielmehr um eine Strategie zu mehr Resilienz gegenüber der Gefahr von politischer Erpressung. Der Fall Russland dient hier als Blaupause.
Als Lösungen werden in der Debatte vermehrt Konzepte wie Friendshoring oder Reshoring diskutiert, sei es im Bezug von Waren oder der Sicherung von Wertschöpfungsketten – wir haben das am Beispiel der Ausführungen von Dorn et al. (2022) – Langfristige Effekte von Deglobalisierung und Handelskriegen auf die deutsche Wirtschaft – besprochen. Aber Gerards Iglesias weist auch darauf hin: Die deutsche Wirtschaft blieb davon bislang unbeeindruckt und baute ihre Präsenz in China durch Direktinvestitionen in den letzten Jahren sogar stark aus. das gilt nicht nur für die Großen, beispielsweise die Auto-Konzerne:
➔ „China ist für uns unverzichtbar“, so ist der Artikel von Aylin Dülger überschrieben: »Auch kleine und mittelständische Unternehmen sind stark von globalen Lieferketten abhängig – viele suchen nun andere Beschaffungsstrategien. Das Geschäft mit China allerdings ist etwa für die Solarbranche unverzichtbar.« Sie berichtet: »Um sich vor Ausfällen oder Materialknappheit zu schützen, will laut einer Umfrage der DZ Bank mehr als die Hälfte der etwa 1.000 befragten Vertreter mittelständischer deutscher Firmen ihre Lager ausbauen. Zwei Drittel der Unternehmen wollen auf ein breiteres Lieferantennetzwerk setzen. Um Abhängigkeiten zu mindern, erwägen 38 Prozent ihre Produktion anzupassen. Jeder dritte Mittelständler will sich in den nächsten fünf Jahren sogar stärker auf das Geschäft mit Westeuropa fokussieren.« Um Lieferkettenproblemen entgegenzuwirken, suchen viele Konzerne nach Alternativen. Aber: »Eine Entkoppelung von den Weltmärkten sei nicht möglich, da es in Europa zu wenige oder keine Zulieferer spezieller Vorprodukte gebe.« Und China? »Die Mittelständler seien in der Umfrage der DZ Bank bei Geschäften mit China gespalten. Mehr als ein Drittel der Firmen sind in ihren Lieferketten von der Volksrepublik abhängig, so die DZ Bank.« Der Handelspartner China ist auch für das Solarenergieunternehmen Belectric unverzichtbar, da ein Teil der Kernkomponenten des Unternehmens, wie zum Beispiel Module, ausschließlich dort beschafft werden kann. »Ohne Güter aus der Volksrepublik könne der Konzern keine Solaranlagen mehr bauen, da es hier bezüglich regionaler Abhängigkeiten aktuell kaum Alternativen gebe. Deshalb würde ein Aus des Handels mit China nicht nur ein Aus ihrer Geschäftstätigkeit bedeuten, sondern der gesamten europäischen industriellen Solarbranche.« Man muss anerkennen: Die Produktion hoch spezialisierter Vorprodukte kann nicht von heute auf morgen in andere Regionen verlagert werden. Die Umsetzung werde ein langer Prozess sein und erzeuge zusätzlichen Kostendruck auf dem Markt.
Abhängigkeiten sollen überall dort reduziert werden, wo Wirtschaftsbeziehungen ein geopolitisches Konfliktpotenzial haben könnten, was insbesondere mit Blick auf autokratische Regime und – momentan besonders diskutiert – in Bezug auf China der Fall ist. Kritisch einzustufende Abhängigkeiten bestehen für Deutschland nicht nur auf der Absatzseite, sondern auch beim Import von wichtigen Rohstoffen, wie Magnesium, Seltene Erden oder Kobalt. Zahlreiche Lieferanten dieser Rohstoffe für die EU sind autokratisch regierte Länder.
Die Loslösung vom Handel mit diesen autokratischen Regimen oder gar ein Decoupling würde der deutschen Wirtschaft nicht nur teuer zu stehen kommen, sondern wäre auch kontraproduktiv. Meint jedenfalls Simon Gerards Iglesias. Denn die Bedeutung der Autokratien in engerer Definition ist in den vergangenen zwanzig Jahren nicht geringer geworden – im Gegenteil. »Das wirtschaftliche Gewicht dieser Länder wird besonders deutlich, wenn man ihren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung oder auch ihren Anteil an den global ausgestoßenen CO2-Emissionen betrachtet: Das rasante Wirtschaftswachstum einzelner Länder aus dieser Gruppe sorgte für einen stetig wachsenden Anteil der Autokratien an der Weltwirtschaftsleistung, die kurz nach der Jahrtausendwende noch bei knapp über 10 Prozent, im Jahre 2020 aber bereits bei 26 Prozent lag. Für das Jahr 2030 prognostiziert der IWF für Länder wie China, Saudi-Arabien oder die Türkei weiter steigende Anteile an der Weltwirtschaftsleistung. Noch deutlicher wird die Relevanz der autokratischen Länder mit Blick auf den Klimawandel. Der Anteil der CO2-Emissionen dieser Länder stieg in den vergangenen zwanzig Jahren von 21 Prozent auf über 47 Prozent an, sodass fast die Hälfte aller weltweit ausgestoßenen CO2-Emisisonen von harten Autokratien emittiert werden.«
Zu welchem Fazit kommt Simon Gerards Iglesias? »Die EU und Deutschland müssen resilienter gegenüber geopolitischen Abhängigkeiten werden, indem sie auf alternativen Märkten aktiver werden. Eine Blockbildung oder umfassendes Friendshoring in der Handelspolitik wäre toxisch für die Globalisierung und den Klimaschutz und torpediert jegliche Kooperationsmöglichkeiten.«
➞ »Wie man mit exzessiven ökonomischen Abhängigkeiten umgehen sollte, zeigt ein Blick nach Fernost. Japan ist ein historischer Rivale der Volksrepublik China, zugleich wirtschaftlich eng mit dem Reich der Mitte verwoben. Geopolitische Spannungen im Konflikt um die Senkaku-Inseln in den letzten Jahren bereiten auch den japanischen Unternehmen Sorgen, die ihre Abhängigkeit von China massiv reduzieren, indem sie ganze Wertschöpfungsketten in die ASEAN-Staaten, eine Freihandelszone mit dynamisch wachsenden Ökonomien, verlagern … Die Politik sorgte hier für eine günstige Ausgangslage – aber es waren die Unternehmen, die geopolitische Risiken einpreisten und ihre Investitionsentscheidungen folglich veränderten. Diversifizierung ist das Gebot der Stunde, nicht Abschottung oder Reshoring.«
Der Staat und seine Politik sind das eine, das andere: »Aber auch Unternehmen sind angehalten, sich mehr als bisher als geopolitische Akteure zu sehen, deren Verantwortung es auch ist, langfristige Perspektiven und Sicherheiten zu schaffen.« Man könnte es auch so ausdrücken: Unternehmen sollten sich nicht darauf verlassen (können), dass sie schon im Fall der Fälle gerettet werden und der Staat als Ausfallbürge immer bereit steht.
Und einiges ist ja schon in Bewegung geraten – vor allem durch die Erfahrungen mit den Verwerfungen im Gefolge der Corona-Pandemie, also schon vor dem, was seit dem 24.02.2022 über uns gekommen ist. Vgl. hierzu beispielsweise diesen Beitrag von Matthias Becker, der am 1. August 2022 gesendet wurde: Globalisierung im Rückwärtsgang: Warum Unternehmen nach Deutschland zurückkehren: „Wir hatten bisher das Modell einer Just-in-Time-Globalisierung verfolgt“, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Das funktioniert in guten Zeiten, aber nicht in Krisenzeiten, und wir leben zunehmend in einer Epoche der Krisen.“ Ähnlich sieht es der Soziologe Wolfgang Streeck. „Im Grunde genommen beginnt eine neue Phase in der Globalisierung“, sagt er, „und diese Geburtswehen einer neuen Weltordnung, die erleben wir gerade.“
Apropos Marcel Fratzscher – der hat Anfang des Jahres 2022 einen Kommentar unter dieser Überschrift veröffentlicht: De-Globalisierung ist keine Lösung: »Immer lauter werden die Stimmen, die eine De-Globalisierung und eine Rückverlagerung der Produktion nach Hause wollen, um die Abhängigkeit von Lieferketten zu reduzieren. Lauter werden auch die Stimmen, die Europa bei zentralen Technologien unabhängig machen wollen. Ein solcher Versuch dürfte nicht nur scheitern, sondern könnte kontraproduktiv sein. Er erinnert an den Slogan der Brexit-Befürworter „Take back control“. Es ist offensichtlich, dass Großbritannien durch den Brexit nicht an Souveränität gewonnen, sondern verloren hat. Denn in einer vollends globalen Wirtschaft kann kein Land Souveränität bei den zentralen wirtschaftlichen Herausforderungen beanspruchen.«
»Die Lieferketten zeigen: Deutschland gehört zu den größten Gewinnern der globalen Arbeitsteilung. Eine Rückverlagerung (reshoring) mag in Einzelfällen sinnvoll sein, im großen Stil wäre es schädlich. Schon heute fehlt es den Unternehmen an Kapazitäten; eine Rückverlagerung würde die Produktivität in Deutschland deutlich senken, nicht erhöhen. Das Resultat wären geringere Erträge für Unternehmen, weniger Wettbewerbsfähigkeit und geringere Löhne. Ein solcher Protektionismus wäre das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells.«
»Das Gleiche gilt für Technologie-Souveränität. Viele träumen von einem Deutschland oder Europa, das nicht auf 5G-Technologie aus China oder digitale Plattformen von US-Unternehmen angewiesen ist. Dieser Zug ist jedoch abgefahren. Für Deutschland und Europa muss es darum gehen, in wichtigen Zukunftsbereichen – von künstlicher Intelligenz über die Entwicklung von Impfstoffen und Medizintechnik bis hin zu Technologien für die ökologische Transformation – weltweit führend zu werden oder zu bleiben.«
Und dann schlägt er das ganz große Buch auf: »Europa muss … viel stärker mit einer Stimme sprechen, um im Systemwettbewerb mit China und den USA seine Interessen zu wahren … Europa wird den Einfluss nur dann erhöhen, wenn es sich selbst stärker integriert. Dies erfordert eine Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen, der Kapitalmarkt- und der Bankenunion, eine stärkere internationale Rolle des Euro und eine reformierte Wettbewerbspolitik.«