Wenn über weltwirtschaftliche Abhängigkeiten und deren Schattenseiten diskutiert wird, dann ist das für viele oftmals auf einem sehr abstrakten Niveau, da geht es dann um Liefermengen und Preise, um Angebot und Nachfrage von Dingen, die dem einzelnen Menschen in der Regel fremd sind oder von deren Existenz, geschweige denn Bedeutung man bislang schlichtweg keine Ahnung hatte, man denke hier an bestimmte Metalle.
Aber man kann die globalisierungsbedingten Abhängigkeiten und der aus ihnen erwachsenden Bedrohungen auch ganz handfest an einem Beispiel verdeutlichen, das für jeden nachvollziehbar ist. Schauen wir auf (bestimmte) Arzneimittel.
»Um Kosten zu sparen, hat Deutschland die Medikamentenproduktion an Monopolisten im Ausland delegiert. Diese totale Abhängigkeit rächt sich«, behauptet Bernd Hontschik1 in seinem Artikel Am Tropf der Welt, der am 30.12.2022 veröffentlicht wurde.
Hintergrund seiner Ausführungen sind solche Meldungen, die in den vergangenen Monaten zugenommen haben: „Angespannte Lage auf dem Arzneimittelmarkt“, „Fiebersenkende Mittel und Hustensäfte gehen aus“, „Lieferengpässe“, „Keine Antibiotika mehr vorhanden“. Viele Medikamente sind nicht mehr ausreichend verfügbar, einige Regale sind leer. Was funktioniert hier warum nicht? Wie immer gibt es nicht nur einen Grund.
➔ »Zuerst der akute Grund: Nicht die angesagte vierte, fünfte oder sechste Coronawelle rollt zur Zeit übers Land, sondern eine fulminante Grippewelle mit dem Schwerpunkt auf RS-Viren, die Arztpraxen und Krankenhäuser an ihre Grenzen bringt. Da kann es schon mal zu einem Versorgungsengpass kommen, kurz und vorübergehend. Das ist normal.«
➔ »Der chronische Grund allerdings wiegt schwerer. Die älteste Meldung über einen Lieferengpass findet sich 1985 im Deutschen Ärzteblatt. Eine Augensalbe konnte wegen produktionstechnischer Schwierigkeiten nicht in den Handel gebracht werden. Eine Lappalie. Dreißig Jahre später aber war daraus eine Lawine geworden. Wir schreiben das Jahr 2016, als das Bundesgesundheitsministerium aufgrund einer Kleinen Anfrage der Linken-Fraktion 13 Impfstoffe und 26 Medikamente auflisten musste, bei denen Lieferengpässe aufgetreten waren. Die Aufregung war groß. Mittlerweile nämlich handelte sich um lebenswichtige und kaum zu ersetzende Medikamente wie die Antibiotika Ampicillin, Piperacillin und Metronidazol. Betroffen war auch Metoprolol, der damalige Blockbuster unter den Blutdrucksenkern, ebenso das Krebsmedikament Melphalan und das Anti-Parkinson-Mittel Levodopa. Es fehlten Impfstoffe gegen Kinderlähmung, Tetanus, Diphterie und Keuchhusten. Das alles ist jetzt schon sieben Jahre her. Zum Besseren gewendet hat sich seitdem nichts.«
Woran liegt das?
»Mit dem Ablauf von Patentschutzfristen wurde die Arzneimittelproduktion durch globale Billigkonkurrenz immer häufiger unrentabel, ganze Produktionslinien wurden in Europa stillgelegt. Das erwähnte Piperacillin wurde zum Beispiel nur noch in zwei Fabriken auf der ganzen Welt hergestellt, und eine davon, die in China, war 2016 explodiert. Außerdem wurden und werden komplette Chargen von Arzneimitteln durch international agierende Großhändler ins Ausland verschoben, wo höhere Gewinne locken als hierzulande.
Lagerkapazitäten werden so gering wie möglich gehalten, weil sie als nutzlose Kosten gelten, sowohl in den Fabriken als auch bei den Zwischenhändlern. Im Falle eines plötzlich höheren Bedarfs gibt es keine Reserven. Rabattverträge einzelner Krankenkassen mit Medikamentenherstellern kickten außerdem die noch verbliebenen Produzenten und deren Produktionskapazitäten vom europäischen Markt.«
Rabattverträge der Krankenkassen?
➔ Die Arzneimittelausgaben galten als größte Kostentreiber bei den gesetzlichen Krankenkassen. »Mit dem im Januar 2003 in Kraft getretenen Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) bekamen die Krankenkassen – als eine von vielen Kostendämpfungsmaßnahmen – die Möglichkeit, mit Hilfe direkter Belieferungsverträge Medikamente zu fest vereinbarten Preisen mit hohem Rabatt zu beziehen. Die Preisgestaltung der Krankenkassen geschah nach Ausschreibungen. Die Vereinbarungen führten grundsätzlich zu Dumpingpreisen, und diese Verträge unterliegen bis heute strikter Geheimhaltung (!). In der Folge stellten Hersteller, die nicht zum Zuge gekommen waren, die Produktion des betreffenden Arzneimittels ein. Die daraus resultierende schrittweise Monopolisierung ließ eine Pharmafirma nach der anderen komplett aussteigen. So kommt es, dass es heute in Deutschland – vor nicht allzu langer Zeit die „Apotheke der Welt“ – keinerlei Arzneimittelproduktion mehr gibt.«
»Nahezu die gesamte Arzneimittelproduktion der Welt findet inzwischen in Indien, Pakistan und China statt. Die Ausgaben für Arzneimittel in Deutschland betrugen im Jahr 2021 etwa 45 Milliarden Euro, die Einsparungen durch die Rabattverträge etwa 4 Milliarden Euro. Für diese zwar nicht unerhebliche Ersparnis hat Deutschland seine Produktionsstätten mit allen Arbeitsplätzen und sein Know-how verloren und ist stattdessen in eine völlige und gefährliche Abhängigkeit geraten.«
Eine im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Abhängigkeit: Was passiert bei uns, »wenn China seine Medikamentenlieferungen einstellt? Dann geht es um Leben und Tod. Vielleicht wird demnächst wieder eine Fabrik explodieren, vielleicht braucht China die Medikamente selbst, vielleicht hat jemand ein falsches Wort über Taiwan gesagt.«
Hontschik schlussfolgert: »Die Rabattverträge müssen weg. Die lebenswichtige Arzneimittelproduktion muss nach Europa zurückgeholt werden. Derzeit sehen wir, was geschieht, wenn unsere Daseinsvorsorge globalisiert wird und in der Hand multinationaler Konzerne liegt.«
Und Anfang des neuen Jahres hat Bernd Hontschik mit diesem Artikel nachgelegt: Todbringende Medikamente. Auch hier beklagt er wieder die bereits beschriebene Globalisierung der Arzneimittelproduktion: »Indien und China haben unsere Arzneimittelversorgung inzwischen fast vollständig in der Hand. In Europa findet keine nennenswerte Arzneimittelproduktion mehr statt. In Deutschland wird kein einziges Antibiotikum mehr hergestellt, seit Sandoz im Jahr 2015 seine letzte Fabrik in Frankfurt-Höchst geschlossen hat. Auf unseren Medikamentenschachteln steht trotzdem „Made in Germany“. In der Packungsbeilage muss nur das Land genannt werden, in dem der letzte Produktionsschritt vollzogen wurde. Im Fall von Arzneimitteln ist das die Kontrolle und Verpackung. „Made in Germany“ ist also nichts weiter als eine Irreführung. Ein Witz.«
Das ist aber noch nicht alles.
➔ »Vor fünf Jahren schockierte die ARD mit einem Bericht aus Hyderabad, der indischen Welt-Arzneimittel-Hauptstadt. Hunderte von Arzneimittelfirmen hatten sich dort angesiedelt. Sie arbeiten in einem Moloch aus Schwefelgestank und fauligen Abwasserkanälen, transportieren ihr Wasser in rostigen Tanklastern, dazwischen Schafe und heilige Kühe auf den staubigen Straßen der Stadt.
Mit „minimaler Kontrolle und maximaler Förderung“ wirbt Hyderabad für seine Industrieansiedlungen! Wasserproben rund um diese Arzneimittelfabriken zeigten bis zu tausendfach höhere Antibiotikakonzentrationen als in der freien Natur jemals zuvor gemessen worden waren. So wachsen in den Abwässern rund um diese Fabriken multi-resistente Keime und Pilze heran, die über die Nahrungskette zum Menschen gelangen, von Reisenden mitgebracht werden und mit keinem Antibiotikum oder Antimykotikum der Welt mehr behandelbar sind. Das sieht man unseren sauberen Arzneimittelschachteln natürlich nicht an.«
➔ »Aber auch das ist noch nicht alles. Im Oktober 2022 warnte die WHO vor vier Husten- und Erkältungssäften, weil sie mit dem Tod von 70 Kindern in Gambia in Verbindung gebracht wurden. Die Kinder waren an Nierenversagen gestorben. Die Regionalregierung im indischen Haryana ordnete die Einstellung der Hustensaftproduktion an. Im November 2022 wurde in Indonesien zwei indischen Unternehmen die Lizenz entzogen: Innerhalb von knapp zwei Monaten waren dort 200 Kinder an akutem Nierenversagen gestorben, nachdem sie Sirupmedikamente eingenommen hatten. Sie waren mit giftigem Diethylenglykol und Ethylenglykol aus Frostschutzmitteln gepanscht. Im Dezember 2022 wurde die Hustensaftproduktion einer weiteren indischen Firma gestoppt, nachdem in Usbekistan 20 Kinder gestorben waren.«
Unser sogenannter Engpass ist also in Wirklichkeit ein Produktionsstopp.
»Die eigentliche Eskalation beginnt aber erst jetzt. Ende Dezember 2022 beschlossen die chinesischen Behörden, die Ausfuhr von Ibuprofen und Paracetamol komplett einzustellen. China benötige seine Arzneimittel derzeit selbst, da die Corona-Infektionszahlen in die Höhe geschossen seien. Nachrichten aus China berichten von langen Schlangen vor den Arzneimittelfabriken, weil die Menschen sich direkt versorgen wollten. Ibuprofen wird glücklicherweise nicht nur in China produziert, sondern auch in den USA, geringe Mengen auch in Ludwigshafen. Für andere wichtige Medikamente trifft das aber nicht zu. Die Bedrohung wächst.«
Das kann man dann auch an solchen Meldungen ablesen: Fachgesellschaften warnen vor Engpässen bei Onkologika (09.01.2023): »Die steigende Zahl von Arzneimittelengpässen betrifft auch die Krebspatienten in Deutschland. Betroffen sind vor allem Medikamente, die schon seit vielen Jahren eingesetzt werden und heute als Generika auf dem Markt verfügbar sind … 2022 (ist) die Zahl der Arzneimittelengpässe in der Onkologie deutlich gestiegen. Die Liste der Betroffenen reiche von Patientinnen mit Brustkrebs über Leukämien/Lymphome zu Karzinomen im Magendarmbereich und Lungenkrebs. Bei den unterstützenden Arzneimitteln fehlten Antibiotika, Harnsäuresenker und Immunglobuline.«
Und aus dem Bereich der Kindermedizin hier ein kurzer Beitrag des SWR-Fernsehens aus Rheinland-Pfalz:
1 Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst, bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“ und Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau. Er ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift „Chirurgische Praxis“.