Ich hatte Sie darauf hingewiesen, dass das für den einen oder anderen erst einmal sehr abstrakte Thema der weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten und der mit den langen Jahren der Hyperglobalisierung verbundenen Zersplitterung der Produktionen in viele einzelne Produktionsschritte, die mehr oder weniger über den gesamten Globus verteilt stattfinden und deren Zusammenspiel nur aufgrund einer unglaublich ausdifferenzierten Logistik über See, Schiene und Straße gesichert werden kann, nicht eine für Betriebswirte eher abseitige Spielwiese der Volkswirte darstellt, sondern dass Ihnen das in vielen Unternehmen, in denen Sie möglicherweise landen, lange nach meiner Veranstaltung wieder um die Ohren fliegt.
Und das nicht nur, wenn wie in diesen Monaten über Jahrzehnte gewachsenen Absatz- und Beschaffungsmärkte kollabieren, sondern auch beispielsweise in Form des „Lieferkettengesetzes“, das nun seit Beginn dieses Jahres, also vor wenigen Tagen, „scharf“ gestellt wurde. Was muss man sich darunter vorstellen?
Mehrere Bundesministerien haben am 29. Dezember 2022 diese Pressemitteilung veröffentlicht: Stärkerer Schutz von Menschenrechten und Umwelt in globalen Lieferketten: »Ab 2023 gilt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.«
„Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG) – so heißt das neue Regelwerk ganz offiziell. Und auch das ist schon eine „Abkürzung“, denn wenn Sie sich das Gesetz im Original anschauen, dann werden Sie unter dieser Titelei fündig:
»Damit werden weltweit zum ersten Mal unternehmerische Sorgfaltspflichten für die Achtung von Menschenrechten und den Schutz von Umweltbelangen umfassend gesetzlich geregelt. Unternehmen müssen ein wirksames Risikomanagement einrichten, um Gefahren für Menschenrechtsverletzungen und bestimmte Schädigungen der Umwelt zu identifizieren, zu vermeiden oder zu minimieren. Das Gesetz legt dar, welche Präventions- und Abhilfemaßnahmen im eigenen Geschäftsbereich und entlang ihrer Lieferketten notwendig sind und verpflichtet zur Errichtung eines Beschwerdeverfahrens und regelmäßiger Berichterstattung. Es gilt zunächst für Unternehmen in Deutschland mit mindestens 3.000 Beschäftigten, ab 2024 auch für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigte.« Es gibt aber bereits ein Entwurf für eine EU-Richtlinie existiert, in dem die Grenze bei 500 Beschäftigten gezogen wird. Die im Vergleich zur deutschen Regelung deutlich strengeren Pläne der EU-Kommission werden von der Bundesregierung unterstützt, dazu der Bericht Koalition unterstützt strengere EU-Regeln, der am 15. September 2022 veröffentlicht wurde.
Das Lieferkettengesetz enthält neue Sorgfaltspflichten zur Einhaltung von umweltbezogenen, aber auch von arbeitsbezogenen Menschenrechts-Standards in Lieferketten. Menschen- und Beschäftigtenrechte gelten nicht nur in Deutschland oder der EU. Hiesige Unternehmen haben auch in Osteuropa, Südostasien und allen Ländern, aus denen sie Vorprodukte oder Dienstleistungen beziehen, dafür zu sorgen, dass dort Mindestlöhne gezahlt werden, keine Kinder- oder Zwangsarbeit vorkommen, keine Gewalt gegen Beschäftigte angewandt wird, Beschäftigte nicht diskriminiert sowie Arbeitsschutz- und Umweltbestimmungen eingehalten werden. Auch Entlassungen aufgrund gewerkschaftlicher Betätigung sind nicht zulässig.
Praktisch heißt das für die Unternehmen: Sie müssen Strukturen schaffen, die es ihnen ermöglichen, ihren Sorgfalts- und Kontrollpflichten nachzukommen, etwa durch ein Lieferketten-Risikomanagement und die Einsetzung von Menschenrechtsbeauftragten. Doch die Kontrolle der Lieferkette ist nicht allein Sache des Managements. Auch für Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten im Betriebs- und Aufsichtsrat ergeben sich neue Aufgaben und Möglichkeiten zur Mitgestaltung. Vgl. dazu aus einer gewerkschaftlichen Perspektive diese neue Studie:
➔ Reingard Zimmer (2023): Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Handlungsoptionen für Mitbestimmungsakteure und Gewerkschaften. HSI-Schriftenreihe Bd. 48, Frankfurt am Main: Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI), 2023
»Reingard Zimmer gibt mit dem vorliegenden Gutachten einen profunden Überblick über die für die betriebliche Praxis besonders relevanten Vorschriften des Gesetzes. Sie arbeitet heraus, welche rechtlichen Instrumente Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften in Deutschland und im Ausland mit dem LkSG an die Hand gegeben werden, um die unternehmerische Sorgfalt für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz in den Lieferketten zu erhöhen. Untersucht wird insbesondere die Verzahnung mit dem Betriebsverfassungsgesetz.«
Man ahnt schon, dass das nicht ohne Kritik geblieben ist bzw. derzeit diskutiert wird: »Für etwa 50 Firmen in Brandenburg und Berlin gilt es bereits: das erste deutsche Lieferkettengesetz. Und stellt, so die IHK Potsdam auf Anfrage des rbb, die Unternehmen „vor immense bürokratische Herausforderungen“«, so Jan Wiese in seinem Artikel Viele Unternehmen schlecht auf Lieferkettengesetz vorbereitet. »Denn das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, wie es ganz genau heißt, verpflichtet große Unternehmen, Maßnahmen bei sich und ihren Lieferanten zu ergreifen, deren Erfüllung dann als sorgfältiger Umgang mit den Rechten von Menschen und Umwelt gilt. Maßnahmen, die mit großem Aufwand einhergehen: Regelmäßige Risikoanalysen aller direkten Zulieferer, die Einrichtung von Beschwerdemöglichkeiten sowie Präventivmaßnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt etwa zählen dazu.
Wie eine aktuelle Studie zur Umsetzung des Lieferkettengesetzes in deutschen Unternehmen jetzt zeigt, fühlen sich die meisten Unternehmen noch nicht gut aufgestellt. Obwohl das Gesetz seit Jahresbeginn in Kraft ist, gaben nur etwa vier Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie auf der organisatorischen Ebene sehr gut darauf vorbereitet seien, 70 Prozent dagegen sehen sich mittelmäßig bis sehr schlecht aufgestellt.«
Eine Studie hat ergeben … Sie wissen mittlerweile, dass man da immer sofort nachschauen muss, wer denn die Studie erstellt hat bzw. für wen. Dazu kann man dem Artikel entnehmen: »Durchgeführt haben die Studie der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) und das Risikomanagement-Unternehmen Integrity Next. Zum BME zählen fast 10.000 Mitglieder aus allen Branchen, darunter alle 30 DAX-Konzerne. Knapp 250 Mitgliedsunternehmen haben sich an der Umfrage beteiligt, vom Kleinunternehmen bis zum Konzern mit mehr als 50.000 Mitarbeitern.« Da kann man beispielsweise rauslesen, dass nicht alle der befragten Unternehmen von dem Gesetz überhaupt tangiert sind. Doch die Tendenz, die sich in der Studie abzeichnet, sei eindeutig, so der Verfasser des Artikels:
»Die Antwort auf die Frage, inwieweit die Unternehmen Klarheit über ihre direkten Lieferanten haben, fällt ernüchternd aus: nur 13 Prozent der Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern haben volle Transparenz, wenn es um Risiken wie mögliche Menschenrechtsverletzungen bei ihren unmittelbaren Geschäftspartnern geht.«
Und Sie haben eben erfahren, dass die Studie durchgeführt wurde mit dem Risikomanagement-Unternehmen Integrity Next. Die natürlich auch so ihre Interessen haben: »Das Unternehmen ist eines von mehreren am Markt, das als Nachhaltigkeits-Dienstleister den Firmen mithilfe digitaler Werkzeuge wie Online-Plattformen oder Social-Media-Analysen Unterstützung anbietet, wenn es um die Umsetzung des Lieferkettengesetzes geht. Werkzeuge, die dringend notwendig sind, denn die Kunden von Integrity Next kommen auf durchschnittlich 6.000 direkte Lieferanten, die es jetzt zu prüfen gilt. Bei größeren Unternehmen geht deren Anzahl in die zehntausende.«
„Es ist tatsächlich so, dass da oft eingekauft wird, ohne dass irgendeine Strategie- oder Nachhaltigkeitsabteilung das sieht und weiß. Und sehr viele, das Gros der Lieferketten, sind tatsächlich im Nebel“, wird das Unternehmen zitiert. Da wäre es doch gut, wenn man diese Aufgabe outsourcen kann – beispielsweise an das besagte Unternehmen.
Was die Studie auch zeigt: viele Unternehmen stehen den vom Gesetz geforderten Maßnahmen noch weitgehend ratlos gegenüber. »Das könnte auch daran liegen, dass die zuständige Kontrollbehörde – das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) – erst spät, ab August 2022 damit begonnen hat, eine erste Handreichung herauszugeben.«
»So wie die Unternehmen bei ihren Zulieferern oft im Dunkeln tappen, scheint auch das Bundesamt nicht so genau zu wissen, welche Firmen es eigentlich beaufsichtigen soll. Auf schriftliche Anfrage von rbb24 Recherche, wie viele Unternehmen gegenwärtig unter das Lieferkettengesetz fallen, antwortet es mit einer Schätzung: ca. 1.300. Genauere Zahlen oder gar eine regionale Verteilung dieser Unternehmen kennt das Amt nicht. Denn die Unternehmen, die das BAFA seit Anfang des Jahres eigentlich kontrollieren soll, müssen sich erstmal selbst beim Amt melden.«
Nick Heine von Integrity Next sieht einen positiven Einfluss neuen Gesetzes auf die Unternehmen: „Die Unternehmen fangen an, gute Leute auf dieses Thema zu setzen. Das wird auf der Vorstandsetage diskutiert. Die Nachhaltigkeitsabteilung beschäftigt sich damit. Der Einkauf beschäftigt sich damit, die Compliance auch. Da ist viel Aufmerksamkeit drauf. Also ich denke, es ist ein guter Anfang.“
Aber braucht man denn nun dafür ein eigenes Gesetz? Man kann das grundsätzlich skeptisch sehen, denn die Unternehmen haben ja auch noch unzählige andere Gesetze und untergesetzliche Vorschriften zu beachten. Mit Blick auf das nunmehr in Kraft getretene Lieferkettengesetz lesen wir aber:
»Ohne das Gesetz – das macht die Studie auch klar – wäre die Lage sicherlich noch prekärer. Denn auf die Frage, was die Firmen überhaupt zur Berücksichtigung von menschenrechtlichen und Umweltrisiken entlang ihrer Lieferketten motiviert, antworten mit 56 Prozent die meisten lediglich: die Einhaltung von Gesetzen.«
➔ Exkurs: Dieses Gesetz ist übrigens nicht von heute auf morgen vom Himmel gefallen. Dazu diese Kommentierung, die am 14. Juli 2020 veröffentlicht wurde: Mit der Geduld am Ende: »Seit 2016 gibt es den nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte. Seit 2013 schon redet der Minister davon, dass am Anfang jeder Lieferkette ein Mensch steht. Dass der Kakao für die 100 Gramm Tafel Schokolade von Kinderhänden gepflückt, die Jeans für sechs Dollar Einkaufspreis in Bangladesch von Frauen zusammengenäht wurde, die im Monat weniger verdienen, als diese eine Jeans am Ende in der Boutique in Deutschland kostet. Die deutsche Wirtschaft wusste seit 2016, um was es geht. 2019 hatte die Bundesregierung erstmals mehr als 3.000 Unternehmen angeschrieben, um eine freiwillige Selbstauskunft über die Mindeststandards bei ihren Lieferketten zu erhalten. 464 von 3.000 nur hielten es für nötig, überhaupt zu antworten. Ganze 18 Prozent erfüllten die Standards.«
Und 2020 bekamen die Firmen eine zweite Chance: »Die Wirtschaft erhielt eine zweite Chance. 2.000 Unternehmen wurden angeschrieben … nur 455 antworteten.« Georg Schwarte, der Kommentator, beschrieb im Jahr 2020 um was es geht, so: »Es geht um Feuerlöscher in den Fabrikhallen, um Sicherheitsschuhe, um Mindestruhezeiten, um Mindestlöhne. Es geht darum, Kinder nicht mehr wie Sklaven auf Teeplantagen oder in Bergwerken schuften zu lassen, es geht um Kontrollen, dass die ätzendsten, tödlichsten, gefährlichsten Chemikalien verschwinden und Arbeiter, die für deutsche Ketten Jeans färben oder Leder für schicke Schühchen gerben, nicht mit 40 Jahren an den Dämpfen sterben müssen … Im April 2013 stürzte das „Rana Plaza“ in Bangladesch ein, mehr als 1100 Menschen starben in der Textilfabrik … Ein Lieferkettengesetz würde demnächst dafür sorgen, dass solche Gebäude wie das „Rana Plaza“ eben nicht von deutschen Zulieferern betrieben werden dürften.«
Und es tut sich was
Wanderarbeiter bei taiwanesischen Zulieferern von Bosch, Continental und Hella riskieren seit Jahren, in die Schuldknechtschaft zu geraten. Nun werden erste Arbeiter entschädigt, kann man diesem Bericht entnehmen, der am 12. Januar 2023 veröffentlicht wurde: Erste Entschädigungen für Wanderarbeiter. »In dem konkreten Fall geht es um taiwanesische Unternehmen, die für deutsche Automobilzulieferer produzieren. Im Fokus der Kritik standen mehrere langjährige taiwanesische Zulieferer von Bosch, Continental und Hella. Viele Fremdarbeiter kommen aus Vietnam und mussten in der Vergangenheit für die Vermittlung der Jobs umgerechnet bis zu 6150 Euro zahlen – eine Summe, die dem drei bis vierfachen Jahreslohn des vietnamesischen Mindestlohns entspricht. Einige Arbeiter mussten zusätzlich umgerechnet 950 Euro hinterlegen, die sie nur dann zurückerhalten, wenn sie die dreijährige Vertragslaufzeit erfüllen. Die meisten Arbeitnehmer und ihre Familien nahmen dafür erhebliche Schulden auf, berichten die Betroffenen. Schulden für Vermittler- und Vertragsgebühren der Arbeitgeber sind in Asien keine Seltenheit, das geht aus einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen hervor. Demnach ist der Übergang zur Zwangsarbeit fließend.«
»Im letzten Jahr berichtete „Le Monde Diplomatique“ und „The Diplomat“ über konkrete Fälle dieser Form der modernen Zwangsarbeit in Taiwan. Dabei ging es um Chin Poon Industrial (CPI), die für Bosch, Continental und Hella Elektronik herstellen, sowie um Shinkong Synthetic Fibers Corporation (SSFC), die Continental mit Kunstfasern beliefern. Aus Unterlagen, und Aussagen von Betroffenen, … werden Wanderarbeitnehmern von CPI jetzt Anwerbungsgebühren zumindest in Teilen erstattet. Vietnamesische Arbeitnehnehmer bestätigten …, dass sie die erste Tranche wie versprochen im Dezember erhalten haben, eine weitere soll im März folgen.«
»Experten sehen darin einen ersten Erfolg des seit Januar geltenden Lieferkettengesetzes. Die Vorsitzende von FEMNET e.V., Gisela Burckhardt, die 2021 für ihr Engagement für die Rechte von Textilarbeiterinnen im globalen Süden mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, bescheinigt dem neuen Gesetz eine wichtige präventive Wirkung. „Ich denke, dass viele Unternehmen sich jetzt erst bemühen, ihre Lieferkette kennenzulernen“, sagt sie in einem Interview.«
Zur Ambivalenz des LkSG: Einerseits wurde durch das Gesetz wurde ein Paradigmenwechsel angestoßen, der dazu führt, dass deutsche Unternehmen anfangen sich ihrer Verantwortung zu stellen. Gleichzeitig weise das Gesetz eklatante Schlupflöcher auf, da es beispielsweise keine zivilrechtliche Haftung vorsieht, effektive Abhilfemaßnahmen nicht vorschreibe und Betroffene ihre Rechte nicht einklagen können. Das führt in der unternehmerischen Praxis dann dazu, dass Entschädigungen, wenn überhaupt, nur teilweise gezahlt werden. Möglicherweise wird es verbindlichere Regeln im europäischen Lieferkettengesetz geben.
Und wieder einmal lernt man wie so oft in der Wirtschaftspolitik: Den einen ist das alles zu viel, den anderen zu wenig.