Überall haben wir eine Krise. Manche im persönlichen Bereich, beispielsweise Studierende mit Blick auf die anstehende Klausur, auf alle Fälle viele Menschen im volkswirtschaftlichen Kontext, um den es hier geht.
»Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 steht Europa im Zeitalter der Krisen. Nach der Finanzkrise, kam die Eurokrise, die je nach Denkschule als Staatsschulden- und/oder Leistungsbilanzkrise identifiziert wurde. Es folgten die Migrationskrise sowie die Coronakrise. Nun ist mit der Ukraine- und Energiepreiskrise eine neue inflationäre Dynamik erreicht.« Damit beginnt Christian Breuer seine Ausführungen im Heft 1/2023 der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ unter der Überschrift Polykrise als Gefangenendilemma. Bitte den sehr kompakten und kuzen Text lesen.
»Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze (2022) meint mit dem Begriff der Polykrise, dass sich die Wirkungen der jeweiligen Krisen gegenseitig verstärken. Es ist z. B. zu vermuten, dass die verschiedenen ungelösten Krisen jeweils politischen Protest hervorrufen. So kam es sowohl nach der Eurokrise, der Migrationskrise, der Coronakrise als auch der Energiepreiskrise zu zunehmender politischer Polarisierung.«
Im weiteren Verlauf seines Artikels wirft Breuer diese Frage auf: Wie kann man Resilienz gegenüber den sich häufenden Krisen zu entwickeln? Resilienz? Was soll das denn sein?
Resilienz – der eine oder andere von Ihnen wird bei diesem Begriff eher an die Psychologie denken. Und tatsächlich ist die Psychologie auch die Quelle, aus der dieser Begriff stammt.
➔ Resilienz – oder wie ein Bambus im Wind: belastbar, flexibel, voller Spannkraft und Widerstandskraft, nachgiebig, elastisch. Resilienz (von lateinisch resilire «zurückspringen» «abprallen») oder psychische Widerstandsfähigkeit: Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Der alte Spruch «was mich nicht umbringt, macht mich stark», ist zwar abgegriffen, ist aber im Grunde eine einfache Erläuterung von Resilienz.
Aber was hat sowas in der VWL zu suchen? Tatsächlich taucht der Begriff in den neueren wirtschaftswissenschaftlichen Debatten immer öfter auf.
Schauen wir dazu beispielsweise in diesen Beitrag von Nicolas Bunde (2023): Wege zu mehr Resilienz in globalen Lieferketten. Da sind wir schon wieder mittendrin in unseren Themen.
»Pandemie, Lieferengpässe und der Krieg in der Ukraine haben die globalen Lieferketten ins Wanken gebracht und etablierte Prinzipien wie das Just-in-time-Prinzip infrage gestellt. Wie hat die Industrie auf die Schocks reagiert, und welche Maßnahmen machen Lieferketten künftig resilienter? … Die Diversifizierung der Zuliefererbeziehungen und Digitalisierung der Lieferketten standen dabei (auf dem Industrieforum des ifo Branchen-Dialogs 2022) besonders im Fokus. Sie erlauben die Reduzierung von Abhängigkeiten und eine bessere Überwachung der Wertschöpfungskette. Eine Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland wurde von den Expert*innen nicht als zielführend erachtet. In Bezug auf politische Risiken scheint eine Abkehr der Industrie von China nicht realistisch, stattdessen dürfte eine »China + 1«-Strategie an Bedeutung gewinnen.«
«Selten zuvor standen die globalen Lieferketten so unter Stress wie in den vergangenen Jahren. Corona-Pandemie, Lieferunterbrechungen und der Krieg in der Ukraine stellten Unternehmen vor nie gekannte Herausforderungen. 2020 brachte zunächst die Corona-Pandemie die globalen Lieferketten ins Wanken. Innerhalb kürzester Zeit verschoben sich Lieferströme; Unsicherheit und staatlich verordnete Geschäftsschließungen ließen die Konjunktur schlagartig einbrechen. Nachdem sich im Sommer 2020 die Liefersituation wieder normalisierte, glaubte man zunächst, das schlimmste hinter sich zu haben. Es zeigte sich jedoch, dass gerade die erhoffte schnelle konjunkturelle Erholung zur Herausforderung für die Lieferketten werden sollte.
Aufgestauter Konsum und Nachholeffekte durch zurückgestellte Projekte ließen 2021 im Verarbeitenden Gewerbe die Auftragseingänge in ungekanntem Ausmaß ansteigen. Die rapide wirtschaftliche Erholung traf zahlreiche Unternehmen weltweit unvorbereitet. Viele hatten erst wenige Monate zuvor ihre Produktion zurückgefahren und sich auf eine längerfristige Rezession eingestellt. Nun traf eine hohe Nachfrage auf ein unzureichendes Angebot.«

»In der Folge kam es branchenübergreifend zu nie da gewesenen Lieferengpässen, die Ende des Jahres 2021 einen Höhepunkt erreichten. 2022 zeichnete sich zunächst eine Entspannung der Lieferkettensituation ab. Der Krieg in der Ukraine und erneute Lockdowns in China führten jedoch abermals zu Verwerfungen in den globalen Warenströmen.«

Angesichts dieser Entwicklungen stand die Resilienz von Lieferketten im Fokus des Industrieforums des ifo Branchen-Dialogs 2022. Dabei ging und geht es darum, »welche Maßnahmen die Industrie bereits unternommen hat, um Engpässe zu verhindern, und diskutierten, wie Lieferketten zukünftig noch unempfindlicher gegenüber Störungen werden können.«
Beispiel Mikrochips
»Mikrochips gehörten 2021 und 2022 zu den prominentesten Engpassbauteilen, deren Mangel die Produktion in Schlüsselindustrien wie der Automobilindustrie und dem Maschinenbau empfindlich störten. Gerade in der Herstellung von Elektroautos werden die Halbleiter dringend gebraucht, aber auch in modernen Maschinen sind Mikrochips nicht mehr wegzudenken. Ihr Mangel ist eine Folge der ersten Corona-Welle, die unter anderem die europäische Automobilindustrie zeitweise zum Stillstand brachte, weshalb diese ihre Bestellungen für Halbleiter massiv gekürzt hat. Mit der unerwartet schnellen Erholung der Konjunktur nahm die weltweite Nachfrage nach Halbleitern wieder stark zu. In Reaktion auf die vorherigen Stornierungen waren die Kapazitäten in der Chipherstellung aber bereits verringert oder anderweitig vergeben worden … Verschärft wurde die Situation durch die langen Produktionszyklen. Die Herstellung von Chips ist zeitaufwendig und kann je nach Bauart vier bis sechs Monate betragen. Auf plötzliche Nachfrageveränderungen kann nur langsam reagiert werden. Diese Problematik gilt für andere Vorprodukte in ähnlicher Weise, so konnte beispielsweise auch die Stahlproduktion in Europa nach dem Corona-Tief nicht mit dem rapiden Anstieg der Nachfrage mithalten. Im Supply-Chain-Management wird das beschriebene Phänomen Bullwhip-Effekt genannt. Bereits kleine Nachfrageveränderungen am Ende der Lieferkette können zu exponentiellen Bedarfsschwankungen bei den vorgeschalteten Lieferanten führen, die umso stärker ausfallen, je länger die Lieferkette ist. Die Folge sind Engpässe oder ein Überangebot. Verursacht wird der Effekt durch schwer vorhersehbare Bedarfsmuster und mangelnden Informationsfluss innerhalb der Lieferkette.«
Die Teilnehmer des Forums »hatten zudem den Eindruck, dass sich der 2021 und 2022 weit verbreitete Materialmangel durch die Vorratsbeschaffungen selbst verstärkt haben dürfte. Es wurde davon berichteten, wie in Reaktion auf Knappheiten die Lagerhaltung in Unternehmen ausgebaut wurde und teilweise über Bedarf bestellt wurde, um sich gegen Materialengpässe abzusichern. Dies sei vor allem bei nicht substituierbaren Teilen der Fall gewesen. Darüber hinaus seien in der Krise einige Unternehmen, beispielsweise im Maschinenbau, auf die Eigenproduktion wichtiger Komponenten umgestiegen. Daten des ifo Instituts von Juli 2022 können die Befunde zu großen Teilen bestätigen. Befragt nach den Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Lieferstörungen bereits ergriffen wurden, nannten die Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes die verstärkte Lagerhaltung mit 68% am häufigsten. In kleinen und mittleren Unternehmen spielte die Lagerhaltung sogar eine noch größere Rolle (73%). Die Diversifikation der Beschaffung (65%) und eine bessere Überwachung der Lieferkette (55%) wurde ebenfalls sehr häufig genannt. Eine höhere Fertigungstiefe, also das Insourcing von Produktionsschritten hatte hingegen nur eine untergeordnete Bedeutung.«
Diversifizierung statt Rückverlagerung der Produktion
Das Ausweichen auf die Lagerhaltung wird aber nicht als langfristige Lösung gesehen, da Bevorratung nicht in der Lage sei, den Komplettausfall einzelner Komponenten zu verhindern und zudem Kapital binde. Dennoch wurde eine baldige Rückkehr zum Just-in-time-Prinzip – bei dem die Lagerhaltung auf ein Minimum beschränkt wird – nicht erwartet. Gerade in Zeiten hoher Volatilität stellt Just-in-time keine geeignete Versorgungsstrategie dar.
Also doch Rückverlagerung der Produktion?
»Gegenüber einer Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland oder Europa gab es ebenfalls Vorbehalte. Zwar könnten so gewisse politische Risiken oder Probleme auf den Transportwegen vermieden werden, dem stünden jedoch höhere Faktorkosten und nicht zuletzt der Fachkräftemangel entgegen.«
Favorisiert wird die Diversifizierung von Lieferketten. Aber auch hier: »Gerade das Single Sourcing, also der Bezug bestimmter Vorprodukte von nur einem Lieferanten, identifizierten die Branchenvertreter*innen als Schwachstelle. Hier könnten Redundanzen die Versorgungssicherheit erhöhen. Es wurde jedoch auch zu bedenken gegeben, dass die Diversifizierung aufgrund der Spezialisierung von Zulieferern nicht immer ohne weiteres möglich ist und die Unterhaltung von komplexeren Lieferstrukturen mit Kosten verbunden sind.«
Und was ist mit China? „China + 1“ statt Abkehr vom Reich der Mitte
Angesichts des russischen Angriffskriegs und der Spannungen zwischen China und dem Westen sind zuletzt die politischen Risiken innerhalb der Lieferkette in den Vordergrund gerückt. Vor allem die große Abhängigkeit von China sowohl als Zulieferer kritischer Rohstoffe als auch als Absatzmarkt deutscher Produkte wird inzwischen von der Politik mit Argwohn betrachtet.
»Auf Unternehmensseite scheint ebenfalls ein Umdenken stattzufinden. Erhebungen des ifo Instituts zufolge planten im Februar 2022 45% der Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes ihre Einfuhren aus China zu verringern. Hauptgründe waren dabei die Vermeidung von Abhängigkeiten (79%) und gestiegene Frachtkosten (66%) … Unternehmen, die laut Umfrage planen, den Bezug chinesischer Vorleistungen zu reduzieren, gaben an, im Gegenzug vor allem mehr aus anderen europäischen und außereuropäischen Ländern beziehen zu wollen, was auf eine »China + 1«-Strategie hindeutet.«
Es wurde von vereinzelten Verlagerungstendenzen berichtet, jedoch auch die Bedeutung des chinesischen Marktes betont.
»Ein großflächiger Rückzug beispielsweise des deutschen Maschinenbaus aus seinem zweitgrößten Auslandsmarkt erscheine nicht realistisch. Eher sei eine »China + 1«-Strategie zu erwarten, bei der Firmen in weiteren asiatischen Ländern wie Vietnam niederließen, um ihr Länderrisiko zu streuen. Die EU sollte diese Diversifizierungsbemühungen politisch flankieren, indem sie den Abschluss von Handelsabkommen mit weiteren Wirtschaftsregionen vorantreibt, etwa durch die Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens, das seit Jahren in der Schwebe ist.«
Und abschließend der Ausblick der Branchenvertreter:
Bezüglich der internationalen Lieferverflechtungen geht man von einer weiteren Diversifizierung der Lieferländer aus, bei der vor allem geografisch näher an Europa liegende Regionen wie die Türkei oder Nordafrika an Bedeutung gewinnen dürften. Eine Abkehr von China oder gar eine Rückverlagerung nach Deutschland wurde hingegen nicht erwartet.