Die Konzentration im Welthandel und daraus resultierende Abhängigkeiten waren auch Thema auf dem Weltwirtschaftsforum. Und die sind nur eine Komponente der globalen Polykrisen

Wir haben uns in diesem Semester intensiv mit dem Thema Abhängigkeiten in der globalisierten Weltwirtschaft beschäftigt. Ausgangspunkt war anlassbezogen die schlagartig zum Problem gewordene Energieabhängigkeit nicht nur, aber vor allem der deutschen Volkswirtschaft von Importen aus Russland, gerade im Bereich Erdgas, aber auch beim Rohöl. Sie haben dann aber nach einer Erweiterung des Blickfeldes lernen können, dass das Thema Abhängigkeiten und darunter vor allem sehr einseitige Abhängigkeiten aus der Perspektive der besonders exportintensiven deutschen Volkswirtschaft nicht nur auf Gaslieferungen aus der Russischen Föderation beschränkt ist. Wir haben das behandelt am Beispiel vieler wichtiger Rohstoffe, beispielsweise bei den Metallen, die hier für die Produktion gebraucht werden. Und noch deutlicher wurde das Ausmaß der einseitigen Abhängigkeiten bei der Behandlung des Themas China.

Auch auf dem Weltwirtschaftsforum 2023 in Davos haben die massiven geopolitischen Spannungen sowie die vieldiskutierten Abhängigkeiten im globalen Welthandel eine prominente Rolle gespielt.

➞ Im nunmehr vergangenen Jahr hat das Weltwirtschaftsforum anders als sonst aufgrund der Corona-Pandemie nicht im Januar stattgefunden, sondern erst im Mai 2022. Damals war natürlich der russische Überfall auf die Ukraine und die nachfolgenden Sanktionen und massiven Verwerfungen in einem Teil des Welthandels ein, wenn nicht das Thema. Und das Weltwirtschaftsforum selbst hatte dazu im Mai 2022 ein White Paper veröffentlicht: Conflict, Sanctions and the Future of World Trade: »The Russian invasion of Ukraine has been met with unprecedented trade and other economic sanctions. Some members of the World Trade Organization (WTO) have revoked Russia’s most-favoured-nation (MFN) status, allowing them to raise barriers to trade with Russia. This paper examines the consequences of heightened geopolitical tensions on the global trading system. It identifies and explores five scenarios for the benefit of business and government leaders navigating an increasingly uncertain landscape. Given how economically interdependent today’s strategic rivals are, the paper warns against moving towards a trading world composed of competing blocs with tenuous links between them.« Sie sehen, bereits im vergangenen Jahr gab es die explizite Warnung vor einer (absehbaren) Blockbildung und einer Abschottung zwischen den Blöcken. Das resultiert natürlich auch aus den über Jahrzehnten gewachsenen und hochgradig ausdifferenzierten Lieferketten (die schon durch die Corona-Pandemie schwer belastet waren) – und aus den im Rahmen unserer Veranstaltung differenziert betrachteten erheblichen Abhängigkeiten zwischen den Volkswirtschaften, vor allem hinsichtlich des Imports bestimmter Waren und Güter.

Das Thema spielt auch eine prominente Rolle in dem alljährlich vom WEF veröffentlichten Globalen Risikobericht, auf den ich Sie in der Veranstaltung bereits hingewiesen habe. Hier noch einmal der direkte Link zu der Veröffentlichung:

➔ World Economic Forum (2023): The Global Risks Report 2023. 18th Edition, Cologny/Geneva, January 2023

Das ist immer eine sehr spannende Lektüre über den Zustand der Welt, natürlich aus einer bestimmten Perspektive. Was ja auch das sich nun dem Ende zuneigende Semester hat deutlich werden lassen: Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind schon aus einer „nur“ volkswirtschaftlichen Sicht komplex und schwer einzuschätzen – und dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass parallel weitere hochgradig komplexe Krisen ablaufen, sich verstärken oder entstehen. Der Globale Risiko-Bericht des WEF versucht, diese mehrfachen Krisen zu benennen und auch auf die Verknüpfung dieser Krisen hinzuweisen.

Durchaus beeindruckend ist in diesem Zusammenhang der Versuch des WEF, die Landschaft der globalen Risiken zu kartieren. Das sieht dann so aus:

Das wird unter diese Überschrift gestellt: „Da die Volatilität in mehreren Bereichen gleichzeitig zunimmt, steigt das Risiko von Polykrisen“:

»Gleichzeitige Schocks, eng miteinander verknüpfte Risiken und eine schwindende Widerstandsfähigkeit lassen das Risiko von Polykrisen entstehen, bei denen unterschiedliche Krisen so zusammenwirken, dass die Gesamtauswirkungen die Summe der einzelnen Teile weit übersteigen. Die schwindende geopolitische Zusammenarbeit wird mittelfristig Auswirkungen auf die gesamte globale Risikolandschaft haben und unter anderem zu einer potenziellen Polykrise mit miteinander verbundenen ökologischen, geopolitischen und sozioökonomischen Risiken im Zusammenhang mit dem Angebot an und der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen beitragen. Der Bericht beschreibt vier potenzielle Zukunftsszenarien rund um die Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Metallen und Mineralien, die alle sowohl eine humanitäre als auch eine ökologische Krise auslösen könnten – von Wasserkriegen und Hungersnöten bis hin zur fortgesetzten Übernutzung ökologischer Ressourcen und einer Verlangsamung des Klimaschutzes und der Klimaanpassung. Angesichts der unsicheren Beziehungen zwischen den globalen Risiken können ähnliche Vorausschauübungen dazu beitragen, potenzielle Zusammenhänge zu antizipieren und die Vorbereitungsmaßnahmen darauf auszurichten, das Ausmaß und den Umfang von Polykrisen zu minimieren, bevor sie entstehen.

In den kommenden Jahren werden die strukturellen Veränderungen in der wirtschaftlichen und geopolitischen Landschaft durch anhaltende, gleichzeitige Krisen noch verstärkt. Mehr als vier von fünf Befragten erwarten zumindest für die nächsten zwei Jahre eine gleichbleibende Volatilität, wobei mehrere Schocks die unterschiedlichen Entwicklungen verstärken werden. Längerfristig sind die Befragten jedoch generell optimistischer. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten rechnet mit einem negativen Ausblick, und fast jeder fünfte Befragte sagt eine begrenzte Volatilität mit relativer – und möglicherweise erneuter – Stabilität in den nächsten 10 Jahren voraus.

In der Tat gibt es immer noch ein Zeitfenster, um eine sicherere Zukunft durch eine effektivere Vorbereitung zu gestalten. Wenn wir der Erosion des Vertrauens in multilaterale Prozesse entgegenwirken, werden wir gemeinsam besser in der Lage sein, neu auftretende grenzüberschreitende Krisen zu verhindern und darauf zu reagieren, und die Leitplanken stärken, die wir zur Bewältigung etablierter Risiken aufgestellt haben. Darüber hinaus kann die Nutzung der Interkonnektivität zwischen globalen Risiken die Wirkung von Maßnahmen zur Risikominderung verstärken – die Stärkung der Widerstandsfähigkeit in einem Bereich kann einen Multiplikatoreffekt auf die allgemeine Bereitschaft für andere damit verbundene Risiken haben. Da sich die wirtschaftlichen Aussichten verschlechtern und die Regierungen mit konkurrierenden sozialen, ökologischen und sicherheitspolitischen Belangen konfrontiert sind, müssen sich Investitionen in die Widerstandsfähigkeit auf Lösungen konzentrieren, die mehrere Risiken abdecken, wie z. B. die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen, die mit dem Klimaschutz einhergehen, oder Investitionen in Bereiche, die das Humankapital und die Entwicklung stärken.«

Widerstandsfähigkeit – da ist sie, die Resilienz, die wir am Ende der VWL-Veranstaltung angesprochen haben am Beispiel des Themas (mehr) Resilienz in den Lieferketten.

Auch McKinsey ist wie immer mit dabei und schaut mit einer neuen Veröffentlichung speziell auf die Abhängigkeiten im internationalen Handel

Im Kontext des Weltwirtschaftsforums 2023 hat die international aufgestellte Unternehmensberatung McKinsey, unter deren Dach auch das McKinsey Global Institute operiert, zahlreiche Beiträge veröffentlicht – darunter diese Veröffentlichung:

➔ Olivia White et al. (2023): The complication of concentration in global trade, McKinsey Global Institute, January 2023

Ich zitiere aus der Zusammenfassung der wichtigsten Befunde, die in dem Papier dann genauer erläutert werden:

➔ Keine Region ist auch nur annähernd autark. Jede Region ist bei mindestens einer wichtigen Warenart zu mehr als 25 Prozent auf den Handel mit anderen angewiesen.
➔ Etwa 40 Prozent des Welthandels sind „konzentriert“. Importierende Volkswirtschaften sind für diesen Anteil am Welthandel auf drei oder weniger Länder angewiesen.
➔ Drei Viertel dieser Konzentration sind auf wirtschaftsspezifische Entscheidungen zurückzuführen. In diesen Fällen (30 Prozent des Welthandels) beziehen einzelne Länder ein Produkt nur aus einigen wenigen Ländern, selbst wenn die globalen Lieferoptionen diversifiziert sind.
➔ In den letzten fünf Jahren haben die größten Volkswirtschaften die Herkunft ihrer Importe nicht systematisch diversifiziert. Alle haben Schwachstellen, einige mehr als andere.
➔ Eine fundierte Neugestaltung des Welthandels erfordert einen detaillierten Ansatz¸ sowohl bei der Kartierung konzentrierter Handelsbeziehungen als auch bei der Entscheidung über Maßnahmen – ob Verdoppelung, Abkopplung oder Diversifizierung.

Quelle: White et al. (2023): The complication of concentration in global trade, January 2023

Übrigens – in dieser Veröffentlichung taucht er wieder auf der HHI, den wir behandelt haben in der VWL-Vorlesung. HHI? Sie erinnern sich – der „Herfindahl-Hirschman-Index“, eines der Konzentrationsmaße, mit denen man die absolute Konzentration bzw. wie gleichmäßig oder ungleichmäßig Merkmalsausprägungen / Messwerte wie z.B. Umsätze oder Vermögen verteilt sind, messen kann. Die McKinsey-Leute visualisieren das dann in so einer beeindruckenden Abbildung:

Welche Schlussfolgerungen werden in dem neuen Report des McKinsey Global Institute präsentiert?

»In einer Welt, in der Resilienz gefragt ist, überprüfen Unternehmen und politische Entscheidungsträger ihre Lieferketten und Handelsbeziehungen. Eine fundierte Vorstellung davon, was als Nächstes kommt, erfordert einen detaillierten Ansatz, sowohl bei der Kartierung konzentrierter Handelsbeziehungen als auch bei der Entscheidung über Maßnahmen – ob man sich verdoppeln, abkoppeln oder diversifizieren soll. Nicht jede konzentrierte Beziehung ist eine Quelle der Verwundbarkeit. Auch kann nicht jedes Produkt ersetzt werden. Entscheidungsträger können ein Portfolio von Maßnahmen entwickeln, um das Wachstum zu entschärfen, indem sie die Optionen auf die einzelnen Produkte und Handelskorridore abstimmen:

Double down. Some concentrated trade relationships are sources of competitive advantage, for instance providing access to technologically advanced inputs. Reinforcing such relationships to make them more resilient may be optimal.

Decouple. Concentrated trade relationships may create levels of risk beyond the appetite of the business, for instance if policies restrict flows between countries, and it may make sense to spin off or divest such flows while pursuing new domestic sources of production. However, by trimming sources of supply, decoupling tends to increase rather than decrease overall levels of concentration.

Diversify. Countries and firms can often address economy-specific concentration by reconfiguring trade relationships by tapping into additional sources of supply, or by partnering to pool sourcing risk. When alternative supply is not an option, such as when trade is globally concentrated, business and policy makers may look to redesign products or production processes to shift away from concentrated inputs.

Eine beeindruckende und einerseits der Komplexität des Themas geschuldete Bandbreite an möglichen, empfehlenswerten Optionen des Handelns für die Unternehmen, die sich auf der Welt-Bühne bewegen (müssen) und für die politischen Entscheidungsträger, die mit der konkreten Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik beauftragt sind. es bleibt beim Aufzeigen der grundsätzlich vorhandenen Optionen – und wenn der eine oder andere das Gefühl haben sollte, dass das irgendwie auf einer abstrakten Ebene bleibt, dann muss man sicher hinsichtlich der Bandbreite der Optionen andererseits auch sehen, dass die Unternehmensberater von McKinsey natürlich auch auf dieser Grundlage etwas zu tun bekommen wollen, also dass die Unternehmen McKinse damit beauftragen, für das konkrete Unternehmen A, B oder C konkret herauszuarbeiten, was das alles konkret bedeuten (könnte). Strategieberatung nennt man das bei den Unternehmensberatern. Und vielleicht fällt ja auch noch ein mehr oder weniger dicker Auftrag seitens der Staaten und ihrer Ministerien ab, wie man das alles wirtschaftspolitisch abbilden könnte. Die Mackies müssen ja auch von was (gut) leben können.