Noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zwidchen CDU, CSU und SPD hat man einen finanzpolitischen Befreiungsschlag über eine Grundgesetzänderung versucht: Verteidigungsausgaben in Höhe von über einem Prozent sind künftig von der Schuldenbremse ausgenommen, daneben wird ein Sondervermögen für Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro geschaffen. Außerdem sollen die Bundesländer wieder einen gewissen Verschuldungsspielraum bekommen.
»Der historische Schuldenpakt, den Union und SPD im März noch vor Aufnahme der Koalitionsverhandlungen verkündet haben, ist gefährdet. Denn die bisherigen europäischen Schuldenregeln stehen der Aufnahme neuer Verbindlichkeiten im Weg. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Brüsseler Denkfabrik Bruegel.« So beginnt der Artikel „Gefahr für Schuldenplan“, der am 25. April 2025 im Handelsblatt veröffentlicht wurde. Der geschäftsführende Bundesfinanzminister Jörg Kukies (SPD) bestätigte die Ergebnisse. Die Analyse der Denkfabrik Bruegel sei „im Grundsatz absolut richtig“, sagte Kukies beim IWF-Jahrestreffen in Washington.
Hier die angesprochene Studie der Denkfabrik Bruegel im Original:
➔ Armin Steinbach and Jeromin Zettelmeyer (2025): Germany’s fiscal rules dilemma, Brussels: Bruegel, April 2025
Die Regeln für Staatsdefizite in der EU waren erst im vergangenen Jahr reformiert worden. Vor allem die deutsche Regierung hatte dabei auf eine Verschärfung gedrängt. Das könnte sich nun rächen: Denn entsprechend der Defizitregeln darf die Bundesrepublik nur dann neue Schulden in der avisierten Höhe aufnehmen, wenn sie zugleich einen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet. Danach sieht es aktuell nicht aus.
Selbst für Merz’ Versprechen, man werde bei der Finanzierung der Bundeswehr nun tun, „was immer nötig ist“, sehen die Forscher enge Grenzen gesetzt.
„Aus europäischer Sicht ist es eine gute Nachricht, dass Deutschland endlich die Fesseln seiner Schuldenbremse abgeworfen hat“, betonen die Studienautoren Zettelmeyer und Steinbach. Scheinbar ein Widerspruch. Aber die Koalitionspartner haben beim Aufsetzen ihres Schuldenprogramms die Folgen der EU-Schuldenregeln nicht ausreichend im Blick gehabt, heißt es in der Studie von Steinbach und Zettelmeyer.
Was ist das Problem?
»In der EU werden die Schuldenregeln völlig anders angewendet als auf nationaler Ebene. Während etwa das neue Infrastruktur-Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro nicht unter die Deutsche Schuldenbremse fällt, wird es nach den EU-Regeln sehr wohl auf das jährliche Haushaltsdefizit angerechnet. Die EU-Finanzminister hatten den Stabilitäts- und Wachstumspakt erst im vergangenen Jahr reformiert. Festgeschriebenes Ziel bleibt ein Schuldenstand von maximal 60 Prozent der nationalen Wirtschaftskraft. Darauf hatte unter anderem Deutschland gedrungen. Im Gegensatz zu vielen anderen EU-Staaten liegt Deutschland mit 63 Prozent Staatsverschuldung zwar nur knapp über diesem Wert. Wenn es jedoch die Finanzmittel aus dem Sondervermögen ausschöpft und die Verteidigungsausgaben kräftig erhöht, könnte der Schuldenstand schon bald auf 90 Prozent steigen, rechnen Zettelmeyer und Steinbach vor. Deutschlands Finanzpolitik stünde damit nicht mehr im Einklang mit den EU-Schuldenregeln.«
»Überschreitet ein Land die 60-Prozent-Marke, vereinbart die EU-Kommission einen individuellen vierjährigen Entschuldungsplan, der auch auf sieben Jahre ausgedehnt werden kann. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das jeweilige Wachstum eines Landes. Gerade dies schränkt den Verschuldungsspielraum Deutschlands ein, da das Wachstum hierzulande seit Jahren besonders schwach ist.«
Besonders pikant: » Ausgerechnet Deutschland hatte in den Verhandlungen der EU über die Reform der EU-Schuldenregeln Ausnahmen für Verteidigungsausgaben oder andere Investitionen abgelehnt – sehr zum Ärger hoch verschuldeter Länder wie Frankreich, Italien und Spanien. Nun fällt Deutschland die von anderen EU-Staaten eingeforderte Haushaltsdisziplin selbst vor die Füße.«
»Zwar könnte Deutschland unter Berufung auf die Ausnahmeklausel der EU-Schuldenregel seine Verteidigungsausgaben um mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Die Bundesrepublik würde also von der Flexibilität der EU-Regeln profitieren, „müsste aber zusätzliche Sicherheitsausgaben reduzieren oder durch Einsparungen ausgleichen“, heißt es in der Bruegel-Studie. Daher könne Deutschland seine derzeitigen Sicherheitsausgaben „nicht aufrechterhalten“.«
Steinbach und Zettelmeyer schreiben von einem „Dilemma“, vor dem die künftige Bundesregierung stünde. In ihrem Papier spielen sie mehrere Wege durch, wie der Konflikt mit den EU-Regeln künstlich umgangen werden könnte, etwa durch eine andere Definition von Verteidigungsausgaben. Doch alle Wege hätten große Nachteile oder nur kosmetische Wirkung.
Laut Zettelmeyer und Steinbach lässt sich der Konflikt des deutschen Schuldenprogramms mit den EU-Regeln nur durch eine Reform des europäischen Fiskalpakts „sauber“ lösen. Eine solche Reform könnte beispielsweise darin bestehen, dass von der EU genehmigte Erhöhungen der Infrastrukturausgaben bis zu einem gewissen Grad von der erstmaligen Anwendung der Regeln ausgenommen werden.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, eine Notfallklausel zu aktivieren, um so den Spielraum für Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Die abgewählte Bundesregierung hatte in den letzten Monaten dafür plädiert, das Regelwerk zu ändern. Aber auch hier wird ein Dilemma erkennbar:
»Die finanzpolitische Doppelmoral der Deutschen ist in Brüssel schon länger Thema. Der Vorwurf: Wenn es darum geht, Schuldenregeln auf andere Länder anzuwenden, plädiere Berlin gern für große Härte. Ganz anders, wenn der eigene Haushalt mit europäischen Vorschriften in Konflikt gerät. Dann versuche Deutschland, die Regeln zu ändern.«
In der gleichen Ausgabe des Handelsblatt gibt es dann einen kurzen Artikel der beiden Studien-Autoren, den ich hier dokumentiere:
Das Milliardenpaket von Merz – nur ein Papiertiger? Der Infrastrukturfonds und stark steigende Verteidigungsausgaben verstoßen gegen EU-Fiskalregeln. Um das zu ändern, gibt es nur einen Ausweg. Von Armin Steinbach und Jeromin Zettelmeyer Der Applaus aus dem Ausland ließ nicht lange auf sich warten: Die Reform der Schuldenbremse ist für viele europäische Partner das lang ersehnte Ende der fiskalpolitischen Askese, die Deutschland sich selbst und anderen Europäern auferlegt hatte. In der Tat ist die deutsche Reform – eine goldene Verteidigungsregel ohne Höchstgrenze wie auch das Sondervermögen für Infrastruktur – ein proeuropäisches Signal für eine deutsche Führungsrolle beim Aufbau einer europäischen Verteidigungsarchitektur und eine finanzpolitische Kehrtwende. Bei gesetzestreuer Anwendung wird die Reform jedoch ein Papiertiger bleiben, der an den europäischen Fiskalregeln scheitert. Diese Regeln waren erst letztes Jahr reformiert worden. Die Grundlogik der Reform zielte darauf ab, die Flexibilität der Regeln durch eine länderspezifische Schuldentragfähigkeitsanalyse zu erhöhen, aus der sich ein Nettoausgabenpfad über einen Zeitraum von vier oder sieben Jahren ergibt. Die Regeln machen der deutschen Reform sowohl kurzfristig wie langfristig einen Strich durch die Rechnung. Aus der Schuldentragfähigkeitsanalyse folgt, dass Deutschland bis 2028 jährlich einen strukturellen Primärüberschuss von mindestens 0,06 Prozent des BIP bezogen auf alle Staatsebenen (Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungen) erreichen muss – egal, was die deutsche Schuldenregel besagt. Der strukturelle Primärsaldo ist die konjunkturbereinigte Differenz von Staatsausgaben ohne Zinsen und Staatseinnahmen. Das verengt den Ausgabenspielraum erheblich, selbst wenn die aktuellen Haushaltsdefizite der Kommunen schlagartig abgebaut würden. Aus dem 500 Milliarden Euro schweren Infrastrukturfonds könnte kein einziger Euro abgerufen werden. Und selbst die neue goldene Regel für Sicherheit wird Deutschland durch die europäischen Regeln nicht ausschöpfen können. Die europäischen Regeln definieren Verteidigungsausgaben enger als die Bundesregierung und auch enger als die an die Nato gemeldeten Verteidigungsausgaben. Von der Flexibilität der EU-Regeln profitieren aber nur die eng definierten Verteidigungsausgaben. Um nicht am Ende insgesamt weniger für Sicherheit ausgeben zu können, müsste die Bundesregierung ihre Kern-Verteidigungsausgaben im Rekordtempo hochfahren, weil sie gleichzeitig von den Regeln gezwungen wird, erweiterte Sicherheitsausgaben zu senken. Langfristig sieht es nicht besser aus. Die EU-Regeln sehen auch nach ihrer Reform im letzten Jahr die Pflicht vor, Schulden auf einen Höchstwert von 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zurückzuführen. Bei plausiblen nominalen Wachstumsraten und Verteidigungsausgaben unter der neuen Schuldenregel würde die deutsche Verschuldung von etwa 63 Prozent des BIP Stand Ende 2024 auf ein langfristiges Niveau von 100 Prozent oder mehr steigen. Berlin und Brüssel stecken damit in einer Zwickmühle. Die deutsche Regierung kann weder ihren Infrastrukturfonds nutzen noch die Verteidigungsausgaben beliebig erhöhen, ohne gegen die EU-Haushaltsregeln zu verstoßen. Sie kann sich aber auch nicht den Gesichtsverlust leisten, den Infrastrukturfonds unangetastet zu lassen. Die Kommission ihrerseits begrüßt zwar den neuen deutschen finanzpolitischen Kurs, sie kann aber für Deutschland keine Sonderregeln anwenden. Gerade erst hat sie mit 22 EU-Mitgliedern Fiskalstrukturpläne ausgehandelt, bei denen manche Länder, etwa Frankreich oder Italien, schmerzhafte Einschnitte hinnehmen mussten. Gleiche Regeln für alle. Deutschland wird argumentieren, dass die neuen Ausgaben Wachstum erzeugen, die einen höheren Ausgabenpfad rechtfertigen. Das stimmt zwar, wird jedoch allenfalls Kosmetik sein. Alle weiteren Auswege wären ein Griff in die illegale Trickkiste. Etwa wenn die Mittel aus dem Infrastrukturfonds auf Bundes- oder Landesebene für bisherige Investitionen verwendet werden. Damit würde sich der Nettoausgabenpfad zwar nicht verändern (und damit europarechtskonform sein), aber darin läge ein Verstoß gegen das Zusätzlichkeitserfordernis im Grundgesetz, das für die Milliarden aus dem Sondervermögen gilt. Die saubere Lösung bestünde darin, die EU-Regeln erneut zu reformieren. Es wäre zwar misslich, die Regeln so kurz nach ihrer Reform wieder anzupassen. Aber die Alternativen wären in ihren Folgewirkungen noch schlimmer: Die deutschen Ausgaben künstlich zu drosseln oder Friedrich Merz in die Fußstapfen von Gerhard Schröder treten zu lassen, der 2003 den Stabilitätspakt durch politischen Druck aufweichte. (Handelsblatt, 25.04.2025) |