Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) ist ein Regelwerk der Europäischen Union (EU), das seit 1997 die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten sichern soll. Er legt fest, dass das Haushaltsdefizit eines Landes 3 % und der Schuldenstand 60 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten dürfen.
In der konjunkturellen Normalsituation sind ausgeglichene Haushalte anzustreben; nur in Rezessionen kann eine Defizitquote von 3 % des BIP, im Fall einer schweren Rezession auch darüber hinaus, in Anspruch genommen werden. Außerdem soll der Schuldenstand 60 % des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Beide Prozentsätze, die sog. Maastricht-Kriterien, beziehen sich auf die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte eines Mitgliedstaates, also in Deutschland auf den Bund, die Länder, die Gemeinden und die Sozialversicherungen.
Verstöße gegen den SWP von Anfang an – aber ohne wirklichen Konsequenzen
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt leidet darunter, dass schon seit Beginn Verstöße – auch durch Deutschland – gegen die Kriterien stattfanden. So lag in den Jahren 2002 bis 2005 sowie 2009 und 2010 (Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise) die gesamtstaatliche (also Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung umfassende) Defizitquote immer über dem 3 %igen Referenzwert. Die Schuldenstandsquote hingegen lag seit der Euro-Einführung im Jahr 2002 oberhalb des Referenzwertes von 60 % und hatte sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 auf einen Wert von über 83 % im Jahr 2010 erhöht. Seitdem sank sie bis 2019 und stieg durch die Coronakrise bis auf 69 %.
»Dass die damaligen Verstöße nicht geahndet wurden, lag u.a. am fehlenden Automatismus bei der Verhängung von Strafen. Regelgebundenheit ist aber notwendig, um für eigennutzmaximierende Politiker und Regierungen die Attraktivität der Kreditfinanzierung, z.B. von Wahlgeschenken, zu mindern.« (Quelle: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Heft 7-8/2024, S. 37).
Die Ende 2023 beschlossene Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes lässt zwar die beiden Maastricht-Grenzwerte (3 % und 60 %) unangetastet. Die Verfahren aber sind weiter gelockert worden, nicht zuletzt um mehr Investitionen möglich zu machen. Für die hochverschuldeten Länder handelt die EU-Kommission nunmehr individuelle Pfade aus, über die jeweils die Schulden abgebaut werden sollen. Wenn „die Länder Reformen – nicht zuletzt Investitionen in die grüne und digitale Infrastruktur – nachweisen, werden ihnen diese angerechnet“. Die EU-Kommission erhält durch diese bilateralen Aushandlungsprozesse enormen zusätzlichen Einfluss. Ob diese Reform geeignet ist, zu einer Schuldensenkung im Euroraum beizutragen, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls ist die lange Nullzinsphase von den hoch verschuldeten Staaten nicht für eine nennenswerte Senkung ihrer Schuldenlast genutzt worden. Mit der zusätzlichen Belastung durch die wieder steigenden Zinsen erhöht sich dann die Gefahr einer neuen Schuldenkrise.
Wir haben also seit 2024 umfassend reformierte Regeln des SWP, um flexibler auf wirtschaftliche Herausforderungen reagieren zu können.
Reform 2024: Die wichtigsten Änderungen
Am 30. April 2024 trat die Reform des SWP in Kraft, mit dem Ziel, die Fiskalregeln zu vereinfachen und an die unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen der Mitgliedstaaten anzupassen. Die zentralen Neuerungen sind:
1. Einführung von Netto-Primärausgaben als Hauptindikator
Statt verschiedener Indikatoren konzentriert sich die Haushaltsüberwachung nun auf die Netto-Primärausgaben, also die Staatsausgaben ohne Zinszahlungen und konjunkturelle Arbeitslosenunterstützung. Dies soll die Überwachung vereinfachen und transparenter gestalten.
2. Länderspezifische Ausgabenpfade
Die EU-Kommission legt für jedes Land individuelle Ausgabenpfade fest, insbesondere wenn das Defizit über 3 % oder der Schuldenstand über 60 % des BIP liegt. Diese Pfade sollen sicherstellen, dass die Schuldenstände auf einen nachhaltigen Kurs gebracht werden.
3. Verlängerter Anpassungszeitraum bei Reformen
Mitgliedstaaten, die sich zu wachstumsfördernden Reformen und Investitionen verpflichten, können den Anpassungszeitraum von vier auf bis zu sieben Jahre verlängern. Dies soll Anreize für strukturelle Verbesserungen schaffen.
4. Schutzvorkehrungen für Schuldentragfähigkeit und Defizitresilienz
Es wurden Mindestanforderungen eingeführt, um sicherzustellen, dass hochverschuldete Länder ihre Schuldenstände jährlich um einen bestimmten Prozentsatz reduzieren. Zudem sollen Sicherheitsmargen unterhalb der 3 %-Defizitgrenze geschaffen werden, um fiskalische Puffer aufzubauen.
5. Überarbeitung des Defizitverfahrens
Das Verfahren bei übermäßigen Defiziten wurde angepasst, um besser auf die individuellen Situationen der Mitgliedstaaten eingehen zu können. Dabei werden nun auch Faktoren wie Verteidigungsausgaben berücksichtigt.
Was genau bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gemacht wurde, kann man diesem Artikel aus dem Bundesfinanzministerium entnehmen:
➔ Bundesfinanzministerium (2024): Reform des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, in: Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums, Mai 2024, S. 8-12
Hat Deutschland ein (unbedingt noch zu lösendes) Problem mit der europäischen Schuldenbremse?
Die aufgeworfene Frage müsste man eigentlich mit „Ja!“ beantworten, wenn man den Ausführungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) folgt, die am 7. Mai 2025 veröffentlicht wurden:
➔ DGB-Bundesvorstand, Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik (2025): Sondervermögen darf nicht durch EU ausgebremst werden!, Berlin, 07.05.2025
»Die neue Bundesregierung nimmt ihre Arbeit auf. Eines der wichtigsten Projekte ist das neue Finanzpaket mit dem 500 Milliarden schweren Sondervermögen zur Modernisierung der Infrastruktur. Aus Sicht des DGB kann das einen zentralen Beitrag zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft leisten. Aber die finanzpolitische Wende droht durch die EU ausgebremst zu werden. Denn das Finanzpaket steht in Konflikt mit den EU-Schuldenregeln. Diese europäischen Fiskalregeln wurden erst im Frühjahr 2024 reformiert …
Insbesondere der frühere deutsche Finanzminister Christian Lindner blockierte eine progressive Reform.
Nach der Wahl Donald Trumps und der veränderten geopolitischen Lage hat die EU-Kommission im März 2025 die sog. „nationale Ausweichklausel“ in den neuen EU-Fiskal- regeln aktiviert: Mitgliedstaaten ist es jetzt erlaubt, über vier Jahre jedes Jahr zusätzliche Schulden in Höhe von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (also insgesamt bis zu 6 Prozent des BIP) für Verteidigungsausgaben aufzunehmen – ohne dabei Sanktionen seitens der EU befürchten zu müssen.
Für Deutschland sind die Folgen dramatisch: Während die beschlossene Lockerung der Schuldenbremse zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht gegen die EU-Fiskalregeln verstößt (zumindest für die nächsten vier Jahre), drohen der höhere Verschuldungsspielraum für die Bundesländer und das 500-Milliarden-Sondervermögen mit dem EU-Regelwerk in Konflikt zu geraten. Aus Sicht der EU ist das Infrastruktur-Sondervermögen u. a. deshalb problematisch, weil bei einer effektiven Umsetzung die Schuldenquote steigen würde. Das wäre zwar kein Problem für die Schuldentragfähigkeit Deutschlands. Aktuell liegt die Schuldenquote Deutschlands deutlich unter dem Eurozonendurchschnitt … Es wäre aber mit dem EU-Regelwerk nicht vereinbar. Dort ist festgelegt, dass die Schuldenquote mittelfristig sinken muss, um den Zielwert von 60 Prozent des BIPs zu erreichen.
Wenn jetzt massiv in Panzer und Munition investiert wird, während die EU bei Investitionen in Schulen, Schienen und Krankenhäuser weiterhin den Geldhahn zudreht, dann wäre das fatal und schürt zudem anti-europäische Ressentiments.
Was könnte und müsste man also tun (aus Sicht der Gewerkschaften)?
Konsequent wäre es, wenn die EU-Fiskalregeln endlich in einer Weise reformiert werden, die wachstumssteigernde Investitionen über eine Schuldenfinanzierung ermöglicht … Mit einer gezielten Revision des Stabilitäts- und Wachstumspaktes könnte das nun nachgeholt werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die erlaubte Schuldenquote von 60 auf 90 Prozent hochzusetzen. Die willkürliche Festlegung ist in den Anhängen zu den EU-Verträgen geregelt und könnte im Rat mit Einstimmigkeit geändert werden. Findet sich keine politische Mehrheit für eine pragmatische Reform der EU-Fiskalregeln, besteht schließlich die Möglichkeit, ein Strafverfahren in Brüssel in Kauf zu nehmen.«
Und auch in der Wissenschaft beschäftigt man sich auch in der Wissenschaft.
Dazu bitte diesen Artikel lesen:
➔ Thiess Büttner (2025): Gelockerte Schuldenbremse: Einhaltung der EU-Fiskalregeln wird wieder zur Herausforderung, in: Wirtschaftsdienst, Heft 5/2025, S. 282-287
»Die im März 2025 beschlossenen Änderungen bei der Schuldenbremse eröffnen erhebliche zusätzliche Kreditfinanzierungsspielräume. Allerdings muss die deutsche Finanzpolitik nicht nur die Regelgrenzen des Grundgesetzes beachten. Auch die europäischen Vorgaben im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes beschränken die Möglichkeiten für eine Schuldenfinanzierung. Daher droht mit der Lockerung der Schuldenbremse, dass Deutschland, wie schon zu Beginn der Währungsunion, stärker in den Konflikt mit den EU-Vorgaben gerät. Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzplanung diskutiert der Beitrag im Einzelnen, welche zusätzlichen Kreditspielräume nun bestehen, was die Konsequenzen für die Entwicklung der Schuldenquote sind, und ob und inwiefern ein Konflikt mit den EU-Vorgaben droht. Abschließend werden Möglichkeiten diskutiert, die Einhaltung der Vorgaben dennoch im Rahmen der Haushaltsüberwachung abzusichern.«
Arbeitsauftrag
➔ Schauen Sie sich bitte vor allem die in dem Beitrag von Büttner (2025) zur Diskussion gestellten Möglichkeiten an, trotz des enormen Investitionsbedarfs die europäischen Vorgaben einhalten zu können, und bewerten Sie das.