Der Blick in die Glaskugel: Das „Herbstgutachten“ 2023 und die erneut bange Frage nach dem „kranken Mann“ Europas

Wir haben uns in der Einführungsveranstaltung in der vergangenen Woche mit dem „Herbstgutachten 2023“ eines von der Bundesregierung beauftragten Konsortiums von Wirtschaftsforschungsinstituten – derzeit wird die „Gemeinschaftsdiagnose„, die jeweils im Frühjahr und Herbst eines Jahres veröffentlicht wird vom RWI in Essen, vom Ifo-Institut in München, vom Kieler IfW, vom IWH in Halle und vom Berliner DIW erstellt. Sie finden das Gutachten hier im Original:

➔ Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2023): Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2023: Kaufkraft kehrt zurück – Politische Unsicherheit hoch, Halle (Saale), 22.09.2023

Darin findet man diese Aussicht: »Deutschland befindet sich seit über einem Jahr im Abschwung. Der sprunghafte Anstieg der Energiepreise im Jahr 2022 hat der Erholung von der Pandemie ein jähes Ende bereitet. Allerdings haben mittlerweile die Löhne aufgrund der Teuerung angezogen, die Energiepreise abgenommen und die Exporteure die höheren Kosten teilweise weitergegeben, sodass Kaufkraft zurückkehrt. Daher dürfte der Abschwung zum Jahresende abklingen und der Auslastungsgrad der Wirtschaft im weiteren Verlauf wieder steigen.«

Dennoch: »Alles in allem wird das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 0,6% sinken. Damit revidieren die Institute ihre Prognose vom Frühjahr 2023 kräftig um 0,9 Prozentpunkte nach unten. Der wichtigste Grund dafür ist, dass sich die Industrie und der Konsum langsamer erholen, als im Frühjahr prognostiziert worden war.«

Darüber wurde natürlich breit berichtet, so in diesem Artikel: Institute senken BIP-Prognose auf minus 0,6 Prozent: »Hohe Inflation, maue Weltwirtschaft, steigende Zinsen: Die führenden Institute haben ihre Konjunkturprognosen angesichts des schwierigen Umfelds gesenkt. Statt dem bislang erwarteten Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,3 Prozent wird nun für das laufende Jahr ein Rückgang von 0,6 Prozent vorhergesagt.«

Auch viele andere Prognosen aus den zurückliegenden Monaten sind mittlerweile nach unten korrigiert worden. Die deutsche Volkswirtschaft wird dieses Jahr also voraussichtlich in einer Rezession beenden.

Vor fast einem Vierteljahrhundert, im Juni 1999, erklärte das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ Deutschland zum „kranken Mann der Eurozone“. Das beschrieb damals die Lage sehr treffend – und diese Tage wurde Deutschland auf die Titelseite gezogen und das Magazin fragt, ob die größte Volkswirtschaft der EU der 27 Staaten erneut der kranke Mann Europas ist. Immer wieder werden strukturelle Probleme genannt: »Viele Jahre galt das deutsche Wirtschaftsmodell als erfolgreich: billige (russische) Energie- und Leistungsgüter importieren, hochwertige Produkte in die Welt exportieren. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen Folgen zeigen Probleme, die Europas größte Volkswirtschaft schon vorher belasteten. Die deutsche Wirtschaft mit ihrem relativ hohen Anteil an energieintensiver Industrie klagt über teure Energie, unnötige Bürokratie, hohe Steuern und Fachkräftemangel … Nach Einschätzung von ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski hat sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bereits vor der Corona-Pandemie verschlechtert. „Spannungen in der Lieferkette, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise haben die strukturellen Schwächen des deutschen Wirtschaftsmodells offengelegt und kommen zu einer ohnehin schwachen Digitalisierung, einer bröckelnden Infrastruktur und demografischen Veränderungen hinzu“. Ähnlich sieht das Christian Rusche vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft: „Die Investitionsbedingungen in Deutschland haben sich aufgrund der hohen Energiepreise und dem zunehmenden Fachkräftemangel zuletzt noch einmal verschlechtert.“ Viele Probleme sind hausgemacht, darunter hohe Unternehmenssteuern, ausufernde Bürokratie und eine marode Infrastruktur«, kann man dem Artikel Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“? entnehmen, der bereits Ende Juli 2023 veröffentlicht wurde.

Allerdings bleiben solche Zuschreibungen nicht ohne Kritik: Volkswirt: Warum Deutschland nicht der „kranke Mann Europas“ ist, so ist ein Interview überschrieben: »Immer wieder wird Deutschland erneut als „kranker Mann in Europa“ bezeichnet. Ursprünglich stammt das aus den 90ern vor den Hartz-Reformen. Volkswirt Holger Schmieding sagt, es gebe einiges zu tun, aber so schlecht stehe Deutschland nicht da.«

Und wir hatten uns in der vergangenen Woche dann ein differenziertes und vielschichtig angelegtes Interview angehört, das ich Ihnen hier noch einmal verlinke:

➔ Deutschlandfunk: Kranker Mann Europas? Eine Außenperspektive von Ulrike Malmendier, Berkeley, 04.10.2023