Konvergenz oder Divergenz? Einige Anmerkungen zu der Übungsaufgabe mit den kaufkraftbereinigten BIP-Werten

Sie erinnern sich – ich hatte Ihnen mit dem Arbeitsauftrag zum Themenfeld Euro und „Euro-Krise“ diese Excel-Tabelle zur Verfügung gestellt: „Bruttoinlandsprodukt – je Einwohner in Kaufkraftstandards (1999-2022)“. Ihre Aufgabe war: Hat es in dem Zeitraum 1999 bis 2022 die von den Befürwortern der Einführung einer Gemeinschaftswährung zu einem frühen Zeitpunkt erwarteten Konvergenz der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gegeben oder nicht? Dieser Frage sollen Sie empirisch mit Hilfe der Ihnen vorliegenden Daten zu beantworten versuchen.

Konkreter: Zu den Euro-Ländern: Mit welchen statistischen Kennzahlen kann man beschreiben, ob es eine konvergente Entwicklung der Euro-Staaten seit der Einführung der Gemeinschaftswährung gegeben hat und wie kann man die Intensität der (Nicht-)Konvergenz statistisch zum Ausdruck bringen? Außerdem: Bitte vergleichen Sie die Entwicklung in den
Nicht-Euro-Staaten mit der in den Euro-Staaten . Gibt es eine Konvergenz zwischen den Nicht-Euro-Staaten und den Euro-Staaten? Und schlussendlich sollten Sie die Entwicklung des Indikators in der Euro-Zone mit der in den beiden großen Volkswirtschaften USA und Japan vergleichen.

Wir haben schon einige Aspekte angesprochen. Hier von meiner Seite aus eine Annäherung an die Beantwortung der Aufgabenstellungen mit einigen ergänzenden Hinweisen:

In einem ersten Schritt macht es Sinn, sich die Entwicklung des BIP je Einwohner in Kaufkraftstandards über den Zeitraum in den vielen Ländern zu visualisieren. Wenn man das macht, dann zeigt sich das folgende bereits beim ersten Hinsehen aufschlussreiche Bild:

Man erkennt sofort die „Ausreißer“-Werte für Luxemburg und ab den 2010er Jahren auch für Irland. Wir haben das schon besprochen, warum es diese deutlich von den anderen Ländern abweichenden Werte für diese beiden Länder gibt. Vor diesem Hintergrund kann man durchaus bei der Berechnung von Durchschnitts- und Streuungswerten für eine Herausnahme der beiden Sonderfälle argumentieren, weil die doch zu einer erheblichen Verzerrung beitragen.

Und wie stellt sich die Entwicklung dar, wenn man die Euro-Länder mit den Nicht-Euro-Staaten der EU der 27 Mitgliedsländer vergleicht?

Man sieht, dass die beiden skandinavischen Länder, die den Euro nicht als Währung haben, über dem Durchschnittsniveau der Euro-Länder liegen, während die osteuropäischen Nicht-Euro-Länder erwartungsgemäß unterdurchschnittlich aufgestellt sind, was die am kaufkraftbereinigten BIP je Einwohner gemessene volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit angeht.

Wie sieht es aus im Zeitverlauf? Konvergieren sie, die EU-Länder?

Man kann hier mit einfachen Methoden der deskriptiven Statistik arbeiten. Und sich beispielsweise als einfaches Maß der Streuung der Werte die Spannweite zwischen den Ländern anschauen:

➔ Die Spannweite berechnet sich als Abweichung zwischen dem größten und dem kleinsten Messwert. Zu bedenken ist: Die Spannweite ist nicht robust gegenüber Ausreißern, sie hängt nur von den Extremwerten ab.

Wenn man sich das Ergebnis für die Jahre 1999 bis 2022 anschaut, dann könnte man zu dem Befund kommen, dass es gemessen an der Spannweite der Einzelwerte keine Konvergenz, aber auch keine Zunahme der Unterschiede gegeben hat.

Man kann ein weiteres Streuungsmaß heranziehen: die mittlere lineare Abweichung. Dann zeigt sich das folgende Bild:

➔ Die mittlere absolute Abweichung eines Datensatzes ist der durchschnittliche Abstand zwischen jedem Punkt und dem arithmetischen Mittel. Es gibt uns eine Einschätzung über die Variabilität eines Datensatzes. Es wird mit absoluten Abweichungen gerechnet, da sich positive und negative Differenzen sonst ausgleichen würden (einen ähnlichen Weg geht die Varianz, welche die Differenzen quadriert, um positive Werte zu erhalten). Die mittlere absolute Abweichung ist nicht das Standardmaß für Streuung – das sind eher Varianz bzw. Standardabweichung.

Hier erkennt man für die EU- und für die Euro-Länder eine Zunahme der Streuung über die Jahre. Zugleich verdeutlich Ihnen die Abbildung auch, welchen Effekt die Herausnahme der beiden „Ausreißer“-Länder hat, dann geht die Zunahme der Streuung wieder zurück.

Ich bleibe noch bei der Betrachtung der Entwicklung auf der Basis der Streuung der Einzelländerwerte und komme an dieser Stelle noch mal zurück zu der eingangs vorgestellten Spannweite. Kann man die nicht als Relation ausdrücken? Doch, kann man. Dafür verwendet man die Maximum-Minimum-Relation und deren Berechnung zeigt ein interessantes Bild:

Offensichtlich ist es zu einer erheblichen Verringerung der Streuung zwischen den Extremwerten gekommen, wenn man diese in Relation setzt.

Man kann weitergehen in der Analyse und sich an die Ausführungen in dem Text von Licchetta/Mattozzi (2023) erinnern. Dort wurde von der „Sigma-Konvergenz“ gesprochen in Verbindung mit einer Ihnen bekannten statistischen Kennzahl.

➔ Die Sigma-Konvergenz bezieht sich auf die Querschnittsstreuung des Einkommens und misst, ob sich die Länder hinsichtlich des Niveaus und der Entwicklung des Pro- Kopf-BIP immer mehr angleichen. Eine Verringerung bedeutet eine Zunahme der Ähnlichkeit der Volkswirtschaften. Sie ist definiert als das Verhältnis zwischen der Standardabweichung und dem Mittelwert. Man misst also diese Konvergenz über den Variationskoeffizienten des BIP pro Kopf.

In der Studie von Licchetta/Mattozzi (2023) gab es diesen Befund: »Im Zeitraum 1995 bis 2019 ist der Variationskoeffizient sowohl in EU19 als auch in der EU27 um etwa die Hälfte zurückgegangen, aber die globale Finanzkrise hat das Tempo der Sigma-Konvergenz für beide Aggregate deutlich verlangsamt. Im Gegensatz dazu führte die COVID-19-Krise zu einem Anstieg des Variationskoeffizienten in der EU.«

Und wie sieht schlussendlich der Vergleich mit anderen Ländern wie den USA, Großbritannien und Japan aus, deren Werte Sie ebenfalls in der Excel-Datei haben finden können?

Bitte schauen Sie sich diese letzte Abbildung genau an. Auf der einen Seite sehen Sie im Verlauf die Auswirkungen der beiden letzten großen Krisen, also der Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2008/2009 sowie der Corona-Pandemie vor allem im ersten Pandemie-Jahr, also 2020. Aber man kann auch eine divergente Entwicklung im Sinne eines Auseinanderlaufens der kaufkraftbereinigten BIP-Werte je Einwohner erkennen: Nach 2008/09 koppeln sich Großbritannien und Japan von Deutschland ab und der sowieso schon vorhandene Abstand zu den USA wird deutlich größer.

Auf der anderen Seite kann man am Beispiel der offensichtlichen Tatsache, dass die USA mit Abstand den höchsten BIP je Einwohner-Wert haben, auch eine der Grenzen dieses Indikators aufzeigen. Dabei geht es um die Tatsache, dass der Wert dadurch zustande kommt, dass man die am BIP gemessene Wertschöpfung auf jeden Einwohner umlegt. Aber wir dürfen von diesem durchschnittlichen volkswirtschaftlichen Leistungsniveau nicht den Kurzschluss machen, dass es den Menschen in den USA mit Abstand besser geht als den Europäern oder den Japanern, denn es handelt sich nicht um eine Einkommensgröße, sondern die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung wird als kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Größe ausgewiesen. Das sagt aber nichts aus über die reale Streuung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse in den einzelnen Ländern. Anders formuliert: Wenn wir eine sehr oder gar extrem ungleiche Gesellschaft haben, dann kann es sein, dass wir sehr hohe BIP je Einwohner-Werte haben, aber sich hinsichtlich der Verteilung extreme Ungleichgewichte zeigen, also ein Großteil der Einkommen und Vermögen auf wenige Personen konzentriert ist, während die große Masse mit wenig abgespeist wird.

Und man muss an dieser Stelle abschließend vor einer Engführung des Konvergenzbegriffs warnen, denn es geht in der EU zumindest nicht nur um eine Fokussierung auf eine volkswirtschaftliche Konvergenz im Sinne einer Angleichung der mit dem BIP gemessenen volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Länder.

Konvergenz als Zielgröße in der EU reicht deutlich weiter als nur eine Angleichung des zentralen Wertschöpfungsindikators: Seit ihrer Gründung gehören der Gemeinschaft Länder mit sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen an. Insbesondere die Aufnahme ärmerer, peripherer Länder wie Irland 1973, Griechenland 1981 sowie Portugal und Spanien 1986 hat die Gemeinschaft heterogener gemacht, und die Frage, wie die Entwicklungsunterschiede und Wohlfahrtsdisparitäten verringert werden können, hat einen festen Platz auf der Agenda der EU. Unter dem Begriff der ökonomischen und sozialen Kohäsion hat sich Brüssel zum Ziel gesetzt, nicht nur die Wohlfahrt der EU-Bürger zu fördern, sondern auch die Lebens- und
Arbeitsbedingungen innerhalb der Gemeinschaft einander anzunähern. Hauptziel ist es, die Unterschiede im sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand zu verringern. Mit der Osterweiterung hat die Verpflichtung zur Kohäsion noch mehr Brisanz bekommen, hauptsächlich wegen des niedrigen Einkommens- und Wohlstandsniveaus in einigen
Beitrittsländern.