Wir haben heute in der Vorlesung ausführlich gesprochen zum einen über die Geschichte des deutschen Geschäftsmodells, das uns viele Jahrzehnte gut getragen hat und das uns zur derzeit (noch) drittgrößten Volkswirtschaft mit viel Wohlstand gemacht hat. Dazu ausführlicher der Beitrag Made in Germany? Es war einmal ein Exportweltmeister. Aufstieg und Fall eines Geschäftsmodells, den wir besprochen haben. Und ich habe Ihnen eine Zusammenfassung wichtiger Aspekte aus dem Ihnen vorliegenden Beitrag von Christoph Scherrer1 präsentiert.
Ein wichtiger Aspekt mit Blick darauf, was gerade vor uns Augen abläuft, ist dieser Hinweis von Scherrer: Die wirtschaftliche Dynamik Chinas macht sich auch für deutsche Unternehmen bemerkbar, die – anders als in der europäischen Peripherie – lange Zeit komplementäre Güter zum chinesischen Industrieprofil gehandelt haben, nun aber im eigenen Bereich mit chinesischer Konkurrenz konfrontiert werden. Lag der Anteil der Produktkategorien, in denen China und Deutschland in direktem Wettbewerb standen, im Jahr 2000 noch bei 20 %, so stieg dieser Anteil bis 2023 auf fast 50 %.
Man muss hier zwei Dimensionen unterscheiden: Zum einen konkurrieren mittlerweile die Chinesen mit uns auch im etablierten Bereich der margenintensiven, hochpreisigen Premiumprodukte, beispielsweise im Maschinenbau (und das zu günstigeren Preisen). Die andere Dimension des Hightech-Wettlaufs ist das Vorstoßen der Chinesen in neue Hochtechnologiebereiche, in denen sie dann weiter sind in der Entwicklung und Anwendung als beispielsweise Deutschland.
Kann man das ein wenig konkreter machen? Schauen wir uns dazu ein aktuelles Fallbeispiel an.
Beispiel: Die Hochgeschwindigkeitszüge in China, die Berge und die KI
Gregor Scheu hat in der Süddeutschen Zeitung von einer interessanten Entwicklung in China berichtet, die uns mehr als nachdenklich stimmen sollte: „Mit KI durch den Felsen“, so ist der Artikel vom 23.11.2025 überschrieben: »China setzt beim Bau eines neuen Tunnels für seine Hochgeschwindigkeitszüge erstmals rein auf eine künstliche Intelligenz, die vorgibt, wo gebohrt und wo gesprengt wird. Das Projekt gilt als Vorbote einer neuen Bauweise.«
»Das Wuling-Gebirge in der zentralchinesischen Provinz Hubei ist ein Albtraum für Tunnelbauer. Brüchiges Gestein, versteckte Höhlen und Wasseradern, die plötzlich aufbrechen können, machen jeden Meter Fels unberechenbar. Jahrzehntelang entschieden Tunnelmeister mit Klopfproben und Bauchgefühl, wie gegraben wird. Beim Bau des neuen Yangcun-Tunnels setzt China nun nicht mehr auf Erfahrung, eine künstliche Intelligenz übernimmt die Bauleitung. Sie legt per Algorithmus fest, wo gebohrt, wo gesprengt und wo gegraben wird. Während in Europa noch darüber diskutiert wird, welche Folgen künstliche Intelligenz für einzelne Branchen haben könnte, nutzt China sie bereits für seine größten Infrastrukturprojekte.
Der Yangcun-Tunnel gehört zu einer neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Zhengzhou und Yichang. Ende 2024 fiel der Startschuss für das Gesamtprojekt, seit 2025 wird im Berg gearbeitet. Drei Kilometer soll der Tunnel einmal messen und bis 2027 fertig sein. Das ist ambitioniert, wenn man bedenkt, wie schwierig das Gelände ist. Genau deshalb hat nun eine KI das Kommando.
Die Arbeitsweise der KI ist nüchtern und gründlich. Für das Projekt hat sie den gesamten Berg in Hunderte digitale „Scheiben“ zerlegt und für jede berechnet, welche Bedingungen dort herrschen und welche Komplikationen auftreten können: Druck, Feuchtigkeit, Hohlräume, Gesteinsstruktur. Anschließend gibt das System für jeden Meter des Tunnels eine konkrete Empfehlung aus. Laut dem chinesischen Projektteam liegt die Erfolgsquote des KI-Systems bei seinen Vorhersagen bei fast 90 Prozent. Chinesische Staatsmedien berichten, dass die Arbeiter auf der Baustelle die Vorgaben der KI dann einfach per Tablet abrufen und eins zu eins umsetzen.
Die Entscheidung für den Einsatz von künstlicher Intelligenz hat ihre Gründe. In der Region hat es in den vergangenen Jahren immer wieder schwere Unfälle gegeben. 2009 stürzte bei einem Tunnelbau in Hubei ein großer Felsbrocken aus der Decke und tötete fünf Arbeiter. 2021 kam es in einem Autobahntunnel zu einer plötzlichen Flutung, bei der insgesamt dreizehn Menschen starben. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass die Bauherren in diesem tückischen Gelände inzwischen lieber auf digitale Unterstützung setzen.
Entwickelt wurde das KI-System von einem Verbund chinesischer Forschungszentren und Universitäten, die sich auf Geotechnik und Bergbau spezialisiert haben. Ihr Ziel ist es, besonders schwierige Gelände berechenbarer zu machen und damit Bauzeiten und Risiken zu senken. Für China ist das kein Nischenthema. Das Land ist durchzogen von Gebirgen, Hochebenen und tief eingeschnittenen Tälern, viele Regionen sind nur schwer zu erschließen. Große Infrastrukturprojekte stoßen daher oft buchstäblich an die Grenzen des Geländes.
Damit neue Hochgeschwindigkeitsstrecken, Stromtrassen und Versorgungsnetze überhaupt gebaut werden können, müssen sie sich durch komplexe Formationen fräsen. Tunnel gelten deshalb seit Jahren als strategisches Rückgrat der chinesischen Modernisierung.
KI-Projekte wie der neue Tunnel in Hubei sind ein Vorgeschmack darauf, wie China künftig seine Großvorhaben angehen möchte: Künstliche Intelligenz soll nicht nur Werkzeug sein, sondern zentraler Teil der Planung, Steuerung und Ausführung. Schon jetzt investiert die Regierung Milliarden in Systeme, die Baustellen digitalisieren, Risiken vorab berechnen und sogar Entscheidungen automatisieren. China hofft, sich damit früh eine führende Rolle im praktischen Einsatz von KI zu sichern, während viele andere Länder noch über Regeln und Grenzen diskutieren. Der Yangcun-Tunnel zeigt deshalb weniger, wie effektiv man einen Tunnel bauen kann, sondern wie der chinesische Staat versucht, seine Zukunft als Hightech-Land zu festigen.«
Und zur weiteren Vertiefung was auf die Ohren
Hier ist wirklich was am Kippen, so könnte man sicher viele Gefühle zusammenfassen. Damit beschäftigen sich auch andere Leute, die China besser und intensiver kennen (gelernt haben). Und die machen einen Podcast (Welt.Macht.China), auf den ich Sie hier verweisen möchte, denn in der neuesten Folge haben die sich genau mit dem Thema beschäftigt. Bitte ziehen Sie sich das rein:

Den Podcast „Made in China 2025: Verliert Europa im Hightech-Wettlauf?“ können Sie hier auch direkt als Audio-Datei herunterladen.
Fußnote
- Vgl. Christoph Scherrer (2025): Geopolitische Umbrüche: Wirtschaftliche Herausforderungen für Deutschland, in: WSI-Mitteilungen, Heft 3/2025 ↩︎