Made in Germany? Es war einmal ein Exportweltmeister. Aufstieg und Fall eines Geschäftsmodells

Viele Dinge, die heute um uns herum passieren und die aufgeregt diskutiert werden, lassen sich nur verstehen, wenn man den Blick zurück richtet und sich anschaut, wie sich das entwickelt hat. Das gilt auch und gerade für komplexe Volkswirtschaften.

Made in Germany: Das Geschäftsmodell der Bundesrepublik steht nach jahrzehntelangem Erfolg am Scheideweg. Wie es dazu kam, wer Deutschland am meisten zusetzt – damit beschäftigen sich Gröbner et al. (2025)1 in einem Beitrag, aus dem hier zitiert werden soll.

Jahrzehntelang ließen sich das Selbstverständnis und das wirtschaftliche Erfolgsrezept Deutschlands in einem kurzen Slogan zusammenfassen: Made in Germany. Das Prinzip? Eine hoch spezialisierte Industrie, die solvente Kunden in aller Welt mit Autos, Maschinen und anderen hochpreisigen Premiumprodukten belieferte und es zugleich schaffte, ihre Kosten Stück für Stück zu senken. Immer mehr Vorprodukte kamen aus den Werkshallen Asiens, später Osteuropas.

Mitte der 1980er-Jahre stieg die Bundesrepublik mit dieser Doppelstrategie zum „Exportweltmeister“ auf – ein Titel, den Politiker und Manager stolz vor sich hertrugen, auch wenn manche Ökonomen schon damals Zweifel an der Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells äußerten. Selbst als China nach der Finanzkrise von 2008 an Deutschland vorbeizog, blieb man auf Kurs.

Umso unsanfter ist jetzt, da der Traum vom ewigen Exportboom zerplatzt ist, das Aufwachen: Aus einstigen Kunden wie China sind erbarmungslose Konkurrenten geworden. Und wo früher freie Märkte und offene Grenzen lockten, drangsaliert nun ein US-Präsident deutsche Unternehmen mit Zöllen und Importquoten.

Das Fundament, auf dem Deutschlands Wohlstand jahrzehntelang ruhte – es bröckelt gewaltig. Der Titel Vize-Exportweltmeister? Könnte schon bald ebenfalls futsch sein. Und mit ihm eine Ära deutscher Selbstgewissheit. Grund genug, einmal genauer hinzusehen: Wie konnte es so weit kommen? Kann Deutschland noch einmal die Wende schaffen? Oder droht der Bundesrepublik das gleiche Schicksal wie früheren Wirtschaftsimperien?

Denn klar ist: Bisher ist noch jeder Champion irgendwann untergegangen.

Kapitel 1: Europa, das Geschäft vor der Haustür

Doch zunächst zum Anfang. Heute mag der Blick vor allem auf die USA und China gerichtet sein. Doch um zu verstehen, worauf Deutschlands Wohlstand tatsächlich fußt, lohnt es sich, dorthin zu schauen, wo die Erfolgsgeschichte begann: in Europa.

Im Jahr 2024 gingen zwei Drittel aller hiesigen Exporte ins europäische Ausland. Maschinen, Autos, Chemie: Nirgendwo sonst finden deutsche Produkte so viele Abnehmer. Das sei kein Zufall, sagt Holger Görg vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). „Länder handeln besonders gern mit Nachbarn: geringere Transportkosten, kulturelle Nähe, ähnliche Rechtssysteme.“ Das erleichtere den Austausch enorm.

Produkte wandern über die innereuropäischen Grenzen, werden in Deutschland weiterverarbeitet – und umgekehrt. Entscheidend für die enge Verknüpfung sind vorwiegend historische politische Einschnitte der Neunzigerjahre: 1993 die Gründung der EU, kurz darauf die Vorbereitung der Währungsunion. Mit der Einführung des Euro im Jahr 2002 verschwinden die Währungsrisiken zwischen den Mitgliedsstaaten. Der Binnenmarkt wird tiefer, der Handel einfacher.

Parallel wächst die Union selbst: Mitte der 1990er-Jahre treten Österreich, Finnland und Schweden bei, 2004 folgt die große Osterweiterung mit Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Slowenien und den baltischen Staaten. Für Deutschland bedeutet das: ein wachsender Binnenmarkt – und neue Partner, die in die Wertschöpfungsketten hineinwachsen. Vor allem die Autoindustrie findet in Osteuropa nicht nur zusätzliche Absatzmärkte, sondern vor allem auch neue, kostengünstige Produktionsstandorte.

Wie stark das Band zwischen den EU-Staaten mittlerweile ist, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts: Unter den zehn wichtigsten Exportpartnern Deutschlands befanden sich im vergangenen Jahr acht europäische Länder – darunter Frankreich, die Niederlande, Polen, Italien und Österreich. Polen ist mittlerweile Deutschlands viertwichtigster Exportmarkt, noch vor China. Und auch das Vereinigte Königreich rangiert trotz Brexits weiter in den Top Ten.

Kapitel 2: Asien – vom Wachstumsmotor zum Konkurrenten

Während die EU wächst, öffnet sich am anderen Ende der Welt ein völlig neuer Markt. 2001 tritt China der Welthandelsorganisation bei – und wird zum Motor der Globalisierung. Für Deutschland beginnt damit ein neues Kapitel: Maschinen und Autos gehen in immer größeren Mengen nach Fernost.

„China war schon Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre ein Thema, aber nur ein kleines“, sagt Görg. „1990 war China noch auf Platz 18 der deutschen Handelspartner. Mit dem WTO-Beitritt 2001 sprang es sofort auf Platz zehn – und nach der Finanzkrise 2008/09 gehörte es zu den Top Five.“

Der Exportweltmeister Deutschland trifft auf die rasant wachsende „Werkbank der Welt“ – und profitiert zunächst enorm. „Bis heute sind Autos, Maschinenbau und Chemie die drei großen Säulen deutscher Exporte nach China“, so Görg. Gleichzeitig überschwemmen günstige Vorprodukte, Elektronik und Textilien aus Asien den deutschen Markt.

Doch Asien ist nicht nur China. Auch Südkorea, Taiwan und Malaysia werden in den 2000er-Jahren zu Gliedern globaler Lieferketten: Halbleiter, Elektronik, Batterien und Komponenten für Maschinen und Autos wandern hin und her. Auch Indien – lange nur ein kleiner Markt – gewinnt ab Mitte der 2010er-Jahre an Bedeutung, vor allem bei Dienstleistungen und IT, aber auch als Zukunftsmarkt für Autos und Chemie.

Parallel baut Deutschland seine Energie- und Rohstoffbeziehungen beständig aus. In den 2000ern steigen etwa die deutschen Gasimporte aus Russland rapide an, zugleich investieren deutsche Maschinenbauer und Autohersteller im größten Land der Welt. Die Türkei wird zu einem bedeutenden Zulieferland, Produktionsstandort und Exportmarkt.

Es ist das Jahr 2014, als das Erfolgsmodell plötzlich Risse bekommt: Die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland und die damit einhergehenden Sanktionen gegen den Aggressor erzeugen Unsicherheit bei deutschen Exporteuren. Noch hofft man in den Unternehmenszentralen, dass es sich um einen einmaligen, vorübergehenden Störfall handelt. Doch nur wenige Jahre später zerstören die Pandemie und der russische Überfall auf die Ukraine alle Illusionen und legen die gravierendsten Schwächen des langjährigen deutschen Erfolgsmodells schonungslos offen: die viel zu starke Abhängigkeit von Auslandslieferanten, billigem Gas aus Russland, Exporten, offenen Grenzen und freihandelsfreundlichen Regierungen.

Zugleich verschiebt sich das Kräfteverhältnis gegenüber China. Die angehende ostasiatische Weltmacht exportiert mittlerweile selbst Hightech, dominiert den E-Automarkt und kontrolliert kritische Lieferketten etwa für Batterien, Medikamente und Elektronik. Während deutsche Autokonzerne in China Marktanteile verlieren, drängen chinesische Hersteller mit subventionierten Elektroautos zunehmend nach Europa.

Das Ergebnis: Der vermeintliche Exportgigant Deutschland weist im Außenhandel mit China plötzlich ein Defizit in Höhe von 67 Milliarden Euro auf – so viel wie mit keinem anderen Land.

Auch mit weiteren asiatischen Ländern ist die Bilanz negativ. Aus Vietnam und Bangladesch kommen Textilien und Schuhe. Taiwan und Malaysia bedienen die Industrie mit Halbleitern und Elektronik.

In vielen asiatischen Lieferländern ist Deutschland inzwischen hauptsächlich eines: Kunde.

Kapitel 3: Amerika – Zwischen Zöllen und Dienstleistungen

Lange bevor China in den Fokus der deutschen Wirtschaft rückt, sind die USA Deutschlands wichtigster Markt außerhalb Europas. Schon 1986 entfällt knapp ein Viertel des deutschen Handelsüberschusses auf das Geschäft mit den Vereinigten Staaten.

Über die Jahre hinweg wachsen die deutschen Exporte in die USA kontinuierlich. Die Verhandlungen über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP sollen in den 2010er-Jahren den nächsten logischen Schritt markieren: weniger Zölle und Bürokratie, mehr gemeinsame Standards. Doch TTIP scheitert – an politischen Widerständen, an Verbraucherprotesten, am Streit über Lebensmittel- und Umweltregeln. Dennoch bleibt der Handel zunächst stabil.

Mit der Wahl Donald Trumps 2016 zum US-Präsidenten ändert sich die Ausgangslage jedoch schlagartig: Strafzölle auf Stahl und Aluminium, Drohungen gegen deutsche Autobauer und scharfe Kritik am deutschen Exportüberschuss. Die transatlantischen Handelsbeziehungen sind politisiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Unter US-Präsident Joe Biden entspannt sich der Ton wieder, mit Trumps zweiter Amtszeit von Anfang 2025 an aber kehren auch die wirtschaftspolitischen Unsicherheiten zurück – und die Zölle.

Was auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich ist: Die deutschen Exporte steigen erst einmal weiter. „Deutsche Unternehmen konkurrieren in den USA nicht nur mit amerikanischen Firmen, sondern vor allem mit Exporteuren aus China oder Japan“, sagt IfW-Experte Görg. Viele dieser Konkurrenten würden von Trump mit noch höheren Zöllen belegt und verlören dadurch an Wettbewerbsfähigkeit. Paradoxer Effekt: Deutsche Produkte bleiben gefragt.

Die Frage ist nur: Wie lange noch? Trump nämlich gefällt es überhaupt nicht, dass die deutschen Exportüberschüsse gegenüber den USA unter allen Ländern die mit Abstand höchsten sind.

Jahrzehntelang waren die USA für die deutsche Wirtschaft ein sicherer Hafen. Heute wirkt es eher wie ein Sturm auf hoher See.

Fußnote

  1. Thomas Gröbner et al. (2025): Es war einmal ein Exportweltmeister, in: Süddeutsche Zeitung Online, 21.11.2025 ↩︎